Interview Martin Nachbar Michaela Pöschl,
20.4. 2002, DV, 90 Min.,
(c) Michaela Pöschl 2002,
aus der Serie "körper denken sprache"


Transkription
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Michaela Pöschl: Mir ist heiss.
Martin Nachbar: Hm?
MP: Mir ist total heiss. Aber ich will meine Kleidung nicht wechseln. Heute muss es noch tun.
MN: Na klar, wenn du das schon die ganze Zeit anhattest. Aber ich, weil ich nicht so viel Kleidung mitgenommen habe und abends immer in Cafes gehe: Es stinkt, ich komme stinkend nach Hause.
MP: Ja. Worüber reden wir? Wir reden über... Wie ich Milli gefragt habe, war es einfach: Ich habe sie gefragt, was Zuhause für sie ist. Jetzt geht es um Denken, Körper und Sprache. Wenn ich dich frage, was ist Denken für dich, ist das zu wenig, Körper passt auch nicht ...
MN: Das Thema Sprache ist für mich interessant. Ich bin eigentlich Tänzer, kann das aber immer nur mit einem Grinsen sagen, weil ich mich nicht wirklich als Tänzer sehe. Ich habe in Amsterdam Tanz studiert und Sprache war für mich wichtig, weil sie mich gerettet hat - gerettet in dem Sinn, dass ich weitermachen konnte mit dem Tanzen.
MP: Du hast in Amsterdam begonnen, Tanz zu studieren?
MN: Ich habe in Düsseldorf begonnen und mich dann in Amsterdam beworben.
MP: Wie alt warst du da?
MN: 21. Also schon etwas älter, aber nicht so reflektiert. Ich konnte nicht abschätzen, was mich interessiert, ich wusste nicht, was mich interessiert. Es war nur wichtig, weg zu gehen.
MP: Und zu tanzen.
MN: Ja, das war auch wichtig. Aber es war nicht wirklich eine Berufswahl, es war mehr eine Wahl zu Tanzen. Manche Leute studieren Jura und es ist klar, dass hier ihr Beruf liegt. Theaterwissenschaftler wissen, sie wollen in die Organisation oder journalistisch arbeiten oder schreiben ...
MP: Sprichst du von Selbsterfahrung?
MN: Ja. Zu diesem Zeitpunkt war das wichtig für mich. Also: Ich war an der Schule in Amsterdam, habe mir aber nie gedacht, dass ich aufhören kann, weggehen und etwas anderes machen. Also musste ich eine Strategie finden, damit umzugehen und habe geschrieben. Wir hatten ein Schulmagazin, wo viel über Stücke geschrieben wurde - es gab viele an der Schule, 2 pro Woche. Ich habe entweder über Stücke anderer geschrieben, über Stücke, in die ich involviert war, und viel über Improvisation. Das waren fast Erlebnisberichte; ich habe geschrieben, was passiert ist, was ich darüber denke, was mich angeregt hat.
MP: Ich muss dich etwas fragen. Frauen wird im allgemeinen eher eine Beschäftigung mit ihrem Körper zugestanden bzw. aufgezwungen. Wenn man sich hingegen als Mann für das Tanzen entscheidet, fallen mir Reaktionen anderer Männern ein, die sagen, das ist "urschwul". Wie kam es dazu, dass du dich als Mann für deinen Körper interessiert hast?
MN: Das Gefühl der Enge, familiärer Enge, die ich erlebt habe, hat sich sehr körperlich manifestiert. Ich hatte Beklemmungen, viel los zu werden und anzukucken, deshalb habe ich mich für den Körper interessiert. Zuerst habe ich therapeutische Sachen gemacht wie Körpertherapie, Feldenkrais, Bioenergetik. Als ich zu tanzen begonnen habe ging es darum, dass ich kapiere, wer ich bin, dass ich die Blockaden und Beklemmungen loswerde und kucke: Was bin ich denn? Es war irgendwann so akut bei mir, es war so krass ...
MP: Was ist krass?
MN: Ich glaube, das war so, weil, sich meine Eltern getrennt haben, als ich 19 war. Zu einem Zeitpunkt, wo eigentlich ich das Haus verlassen wollte oder sollte hat das Haus mich verlassen. Und das hat mir den letzten Rest gegeben. Ich war völlig orientierungslos, konnte nicht mehr auf Sachen zurückgreifen, die ich schon vorher von mir wusste, auch nicht auf Dinge, die ich schon konnte. Ich hatte das Gefühl, das ist alles weg.
MP: War das alles nur im Kopf oder hat es sich auch körperlich manifestiert? Bei mir war es zu dieser Zeit nur im Kopf. Ich hatte mit 19 nicht Bauchweh wie ich es z.B. heute Nachmittag stressbedingt hatte.
MN: Es war leider nicht im Kopf. Es war eine Sprachlosigkeit da, weil es auch niemanden gab, mit dem ich über die Situation hätte reden können. Später habe ich Psychotherapie gemacht, um das zu verarbeiten. Mit 17, 18, als meine Eltern sich gestritten und getrennt haben, gab es niemanden, mit dem ich reden konnte, nur Sprachlosigkeit.
MP: Sprach- oder Lieblosigkeit?
MN: Sprachlosigkeit. Ich glaube, das war das Fatale an der Geschichte: lieblos war es überhaupt nicht, weder in bezug auf mich noch zwischen meinen Eltern, wenn sie sich gestritten haben. Das war das voll mit Gefühl, Zuneigung ...
MP: Aber ist es nicht so, dass sie keine Zeit hatten zum Zuhören? Dich wollte niemand hören. Deshalb warst du scheinbar sprachlos.
MN: Genau. Das lässt sich wohl auch in Bezug auf das Labor thematisieren ... In dieser Zeit habe ich schon in einer Schülerzeitung geschrieben. Aber diese Texte waren immer sehr humoristisch und so absurd, dass sie niemand verstanden hat und wir uns immer Ärger eingehandelt haben.
MP: Da konntest du dich gut distanzieren, oder?
MN: Genau. Oder wir haben im Deutschunterricht total abgehoben geredet. Das waren durchaus Ventile, die wichtig waren. Aber das Alleingelassen-Sein und die Einsamkeit hat es nicht berührt.
MP: Sprachlosigkeit ist gleich Einsamkeit?
MN: In diesem Fall schon. Wie du gesagt hast, da zuhause keiner den Kopf hatte, mir zuzuhören, hatte ich nicht die Möglichkeit, das in Worte zu fassen. Das geht Hand in Hand. Ich weiss nicht, ob eines vor dem anderen kommt.
MP: Komisch, dass man sich sprachlos vorkommt, wenn man niemanden hat, der einem zuhört. Du hast ja eine Sprache, oder? Und du suchst dir einen Ort, wo du sie hinplatzieren kannst.
MN: Mit 17, 18 brauchst du, glaube ich, jemanden der dich packt und dich fragt oder dir auf die Nerven geht. Zu dieser Zeit willst du mit Erwachsenen nicht über solche Dinge reden. Aber irgendwie doch. Dann kam der Tanz. Es hat wohl auch mit meiner Persönlichkeit zu tun, dass mir das lieb ist.
MP: Der Tanz oder der Körper?
MN: Eine Beschäftigung mit dem Körper, aber hier meine ich schon Tanz. Ich habe begonnen, bei einem Mann Tanzkurse zu nehmen: viel Improvisation und Technik. Er hat alles unterrichtet, jeden Tag einen Kurs oder zwei - das war meine erste Schulung.
MP: In Düsseldorf?
MN: Ja, und es war eine Art Rettung. Es kam mir insofern entgegen, als ich schon immer, auch als Kind, lieber nicht direkt über meine Gefühl oder meine Probleme gesprochen habe.
MP: Manche Leute können sich weder verbal noch mit ihrem Körper mitteilen. Wenn du dich für den Körper entscheidest, dich entscheidest, dir auf einer anderen Ebene als bisher Gehör zu verschaffen, ist das ein grosser Schritt. Warst du dir dessen bewusst?
MN: Es war ein intuitiver Schritt. Jetzt bin ich in der Krise. Ich bin an einem Punkt angelangt, wo mir das Versprachlichen, ein Sprechen über persönliche Erfahrung fehlt. Ich würde nicht sagen, dass das Tanzen schlecht oder falsch war - es war wichtig, das eine zeitlang mit Tanzen zu machen. Aber es braucht auch andere Komponenten. Im Moment bin ich am Herumfeilen, Suchen und Abtasten, auch jetzt: Es ist sehr aufregend, über solche Sachen zu reden, das ist ein Gefühl von sich Preisgeben.
MP: Ich habe einige Therapien gemacht. Irgendwann kam ich dann auf den Körper, weil mir das ewige Rumreden über die Vergangenheit auf die Nerven ging. Und jetzt komme ich, so wie du, wieder zur gesprochenen Sprache zurück. Du kannst dich nicht drücken.
MN: Ich glaube, es gibt auch ein Sprechen, das sehr körperlich ist. Ein Beispiel für Sprechen, das es nicht ist, ist das, was letzte Woche im Labor abgelaufen ist. Das war zum Teil sehr abgehoben, was auch wichtig ist und seine guten Seiten hat! Aber es ist eine Art von Sprechen, wo ich das Gefühl habe, es bewegt sich nicht.
MP: Dich nicht.
MN: Es bewegt sich nicht aus mir heraus und bleibt vom Empfinden her im Kopf.
MP: Ich dachte, ich möchte etwas spüren, zu etwas in Resonanz gehen, und konnte nicht. Nicoles Video mit den Versuchspersonen in Dachau und deren erzwungenem Geschlechtsakt auf dem Tisch hat mich berührt.
MN: Mich auch.
MP: Stefan hat gesagt, dass mich meine "Entrüstung" angesichts dieses Videomaterials bequemerweise vor der - wirklich wichtigen - Auseinandersetzung mit dem Thema MigrantInnen schützt. Wenn mich dieses Video jetzt berührt, sage ich, ist das nicht Entrüstung über die Vergangenheit, sondern: Das bin jetzt ich. Es geht immer auch darum, was das mit mir macht. Auf diese Resonanzräume schauen ist für mich sehr wohl kreativ.
MN: Ich finde, es ist manchmal nicht wichtig, Material in einen Zusammenhang zu stellen. Denn wenn das zuviel passiert, hat es die Tendenz, abzutöten. Wie Stefan darüber geredet hat, war das interessant. Nur, wenn es eine Woche lang passiert, gibt es Momente, wo ich abschalte. Und der Impuls, mich zu äussern, wenn sich Unzufriedenheit ergibt, hat wohl auch mit Sprache zu tun.
MP: Wie lokalisierst du deine Unzufriedenheit?
MN: Wo sitzt sie? Du hast gemeint, mein Feedback an Sabine war gut. Das ist auch etwas, das ich kann. Aber es kommt mir manchmal verspätet vor, weil den Impuls dazu hatte ich schon einen oder zwei Tage davor. Aber ich denke erst lange darüber nach, bis ich es konstruktiv sagen kann. Ich bin dabei zu kucken, wie ich es direkter sagen kann, vielleicht auch als Vorwurf, was soll's!
MP: Ich hingegen hatte das Gefühl, dass, wenn da welche in Resonanz gingen, es Stefan, Sabine und du waren. Ich hatte nicht das Gefühl, dass dir etwas zu viel wurde.
MN: War es auch nicht, bis zur Demo. Die Demo konnte ich nicht mehr so abgehoben verarbeiten. Und ich war froh, als Nicole über das Video gesprochen hat. Die erste Woche fand ich in Ordnung - wobei zu keinem Zeitpunkt klar war, was das, was wir tun, mit Körpern zu tun hat, mit unseren Körpern und diesem Raum.
MP: Wie hätten wir es "körperlicher" machen können?
MN: Einerseits durch ein Sich-persönlich-in-Beziehung-Setzen-im-Gespräch, Geschichten von sich erzählen. Aber auch, wenn man körperlich arbeitet, sag ich mal ganz platt, den Mut haben, dass sich das vom Text völlig entfernt und der Text nur noch als ein Impuls funktioniert, nichts weiter. In diesem Punkt herrschte hier eine ganz extreme Zögerlichkeit. Diese "Zuhandenheit" war eine Idee. Aber wenn man so eine Idee einen halben Tag lang wirklich ausprobiert, und auch nicht so, dass 2 das machen und der Rest zukuckt, sondern es alle untereinander probieren, da kann es einen Schritt weiter gehen, und noch einen Schritt weiter. Und dann passiert etwas. Dann kann man es auch wieder rückbeziehen auf die Texte ... Diese Schleife haben wir nicht gemacht.
MP: Sagst du, du denkst mit deinem Körper?
MN: Nein.
MP: Nie? Ich behaupte das manchmal von mir.
MN: In der Szene, wo ich studiert habe, wird das so oft gesagt: der Körper der Erinnerung, der Körper denkt. Das ist eher eine Frage von: Wie sagt man es? Ich denke, es gib ein Potential im Körper, das durch das kognitive oder intellektuelle Denken nicht erfasst wird, aber auch eine denkerische Dimension hat, einen Einfluss auf das intellektuelle Denken. Ich habe viel Contact Improvisation und die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich richtig tanze oder trainiere, meine Gedanken anders kommen. Oder: Wenn sich ein bestimmter Muskel plötzlich entspannt, erinnere ich mich an einen Traum von letzter Nacht, den ich vergessen habe. Man könnte sagen: Die Erinnerung war in diesem Muskel festgesetzt, und durch die Bewegung kommt das Bild zurück. Auch umgekehrt: Wir haben einmal ein Video über die Geschichte von Contact Improvisation angekuckt. Aus dem Off kam ein sehr guter Text: Danach sind wir ins Studio und waren warm zum Tanzen.
MP: Ohne aufzuwärmen?
MN: Alle waren bereit. Der Körper war eingestimmt.
MP: Warum?
MN: Ich denke, aufgrund des Textes: Die Stimme ist sehr im Fluss, ohne grosse Gefühlsschwankungen. Auch bei Contact geht es um einen Bewegungs- und Wahrnehmungsfluss. Und dieses Video hat uns eingestimmt, wirklich gestimmt, es hat den Körper nicht wirklich warm gemacht, aber die Wahrnehmungen eingestimmt, so dass es leicht war, sich am Anfang so zu bewegen, dass du dich dadurch aufwärmst.
MP: Das heisst, ich kann insofern sagen, "mein Körper denkt", als in ihm Erinnerungen sitzen, und wenn ich mich so und so entspanne kommen sie vielleicht an die Oberfläche. Als ich mein Video "Der Schlaf der Vernunft" produziert habe, habe ich empfunden, dass ich hier mit meinem Köper denken darf. Ich bezeichne das Video als Text und als theoretische Auseinandersetzung. Und ich platziere diesen Text, in dem auch mein Körper ist, in einen grösseren Kontext. Innerhalb eines bestimmten Theorie- und Kunstkontextes - in diesem Fall ging es mir persönlich um den Theoriekontext - mache ich ein Statement und verwende dazu meinen Körper.
MN: Beim Stückemachen geht es genau darum: Wie kann ich den Körper so einbeziehen, dass er Teil eines Diskurses wird? Man muss darauf achten, den Körper nicht zu instrumentalisieren. Mann muss ihn als Teil des Textes auffassen, den Körper nicht benutzen, um etwas zu zeigen, etwas zu bebildern, sondern ihn von vornherein als Teil des Textes sehen.
MP: In einen sehr abstrakten Diskurs meine eigene persönliche Geschichte platzieren und sie als Teil des Diskurses begreifen?
MN: Genau. Meiner Erfahrung nach ist die Hauptarbeit beim Tanz nicht das Training - dass man fit ist, dass man das Synchrone hinkriegt - , sondern der Schritt, den Körper miteinzubeziehen. Das braucht auch am meisten Zeit. Doch wenn man im Denken bleibt, ist es nicht anders: Auch wenn ich einen Text schreibe braucht es Zeit, bis dieser Textkörper resoniert.
MP: Amelia Jones hat einen sehr netten Text geschrieben, in dem sie erst vom Tod ihre Vaters berichtet und davon ausgehend sehr theoretisch über Erinnerung schreibt. Wenn der Körper der Sprechenden hinzukommt, beim Tanz oder bei der Performance, wird der Riss noch grösser, oder?
MN: Ja, und das manifestiert sich auch in der Wahrnehmung von Tanz. Du hast gestern darüber gesprochen, dass BetrachterInnen von Performances angesichts des Körpers der Künstlerin oft glauben, diese zu kennen und beginnen, die Aktion zu psychologisieren.
MP: Abzuwerten meinst du?
MN: Ja, abzuwerten. Im Tanz ist es ähnlich. Hier ist es so, dass ein Stück im Theaterkontext immer etwas von Entertainment hat. Das ist nicht unbedingt schlecht. Aber du bist eben immer Gastgeber, wenn du Leute einlädst, deine Arbeit anzukucken. Du lässt Leute eine Stunde mit dir sein und das hat einen Zeitverlauf. Und der wirft sofort die Frage auf, wie ich die Aufmerksamkeit binde. Es hat immer mit Entertainment zu tun. Und es ist schwierig, da nicht reinzurutschen. Als BetrachterIn hast du die Wahl, ein gutes Stück als pures Entertainment oder als echte gedankliche Meisterleistung zu betrachten. Viele Zuschauer entscheiden sich fürs Entertainment und das ist schade. Das ist wohl nicht tanzspezifisch, aber es ist so. Jerome Bel hat ein Stück gemacht, das man als platt bezeichnen könnte. "The Show must go on" besteht aus 15 Popsongs und handelt von Leben, Tod und Auferstehung, sehr klassisch. Es gibt 20 Tänzer, die ganz simple Aktionen machen. Supersimpel! Als ich dieses Stück gesehen habe, hat es mich sehr berührt, Pop so zu instrumentalisieren, um über Leben und Tod zu sprechen und gleichzeitig eine Reflexion über die Mittel zu erreichen, fand ich Klasse. Aber die meisten Leute, die das sehen, hören nur die Popsongs und finden das witzig. Das finde ich schade.
MP: Ich mache Videos ohne Schnitte: Du schaust auf eine Sache und da bleibst du. Mir ist es sehr angenehm, wenn sich Leute reduzieren, nur eine Sache rausstellen und mir als Betrachterin Raum zum Denken bleibt.
MN: Ich mag das auch, lieber ein kurzes Stück, und es ist klar, als 40 Minuten wischiwaschi. Deshalb finde ich auch, dass wir für das, was wir im Labor gemacht haben, bei den beiden Präsentationen genau die richtige Lösung gefunden haben.
MP: Wie hat sich dein Denken verändert, seit du tanzt? Du hast gesagt, die Beschäftigung mit dem Körper ging von deiner Sprachlosigkeit aus. Wie hat sich diese Sprachlosigkeit im Laufe dieser Auseinandersetzung verändert? Wie hat sich deine Wahrnehmung der Sprachlosigkeit verändert?
MN: Zum einen habe ich immerhin die Möglichkeit entwickelt, zu reflektieren: Ich kann das - worüber wir eben gesprochen haben - sagen, besser spät als gar nicht.
MP: Sprichst du von einer Sensibilisierung von Sprache?
MN: Ja, ich meine eine Verfeinerung von Sprache. Die konnte sich aber nur entwickeln, weil es in Amsterdam an der Schule sehr wichtig war, über die eigene Arbeit zu sprechen und Feedback zu geben, Leuten zu sagen, was nicht funktioniert, was schlecht ist, aber immer konstruktiv. Zum anderen habe ich jetzt auch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, dass es noch einen Schritt mehr braucht. Auch das war nur in diesem Wechselspiel zwischen Tanzen und Sprechen möglich. Wenn ich mich nur mit Sprache befasst hätte, hätte ich das nie leisten können: in einem Studium der Germanistik zum Beispiel, oder im Rahmen von Theaterarbeit.
MP: Bei Schauspielern habe ich oft den Eindruck, dass sie hinter Sprache viele private Probleme verstecken - aber in Salzburg bei "Jedermann" mitmachen ...
MN: ... und unheimlich viel Rotwein trinken nach der Aufführung. Aber nicht dadurch, dass ich mich mit meinem Körper beschäftigt habe, hat sich automatisch mein Umgang mit Sprache verfeinert. Das ist passiert, weil an der Schule viel gesprochen wurde. Ich habe fürs Gymnasiumblatt geschrieben und fürs Tanzschulblatt. Das eine Schreiben war wirklich ein Weggehen von mir selbst. Das andere war immerhin ein Schreiben über meine Erfahrung in der Improvisation oder meine Erfahrung beim Betrachten von Stücken.
MP: Worüber hast du im Gymnasiumblatt geschrieben? Was ist "von dir weggehen"?
MN: Wir haben mit Vorliebe über Politikertode geschrieben, über Religion, über Schulthemen, dass es die Teestube wieder gibt oder nicht mehr gibt. Es hatte natürlich mit uns zu tun. Aber wenn ich über eine Improvisation schreibe - an einen Text erinnere ich mich noch - da schreibe ich ganz unmittelbar über meine körperlichen Erfahrungen. Ich schreibe nicht: Da gab es einen Schmerz, sondern: So hat es funktioniert, oder: Da gab es ein Glücksgefühl. Ich schreibe über das, was im Kontext mit ein paar anderen Leuten passiert ist. Über die Teestube habe ich nicht geschrieben: Ich bin glücklich, dass es sie gibt, sondern: Es ist nötig, dass sie kommen muss. Hier ist ein qualitativer Unterschied. Über diese Dinge habe ich noch nie so nachgedacht ...
MP: Hast du dir fürs Gymnasiumblatt Dinge ausgesucht, die du - aus sicherer Distanz - kritisieren konntest? So macht man sich nicht verletzlich.
MN: Ja, ganz klar.
MP: Das ist spannend. Wann nehme ich als Leserin einen Text ernst? Für mich hängt das sicher davon ab, ob der Schreibende etwas aufs Spiel setzt, wie er sich in seinem Text zeigt. Darüber habe ich noch nie nachgedacht ... Hast du deine Texte über Improvisationen aus der Erinnerung geschrieben oder während dem Betrachten?
MN: Aus der Erinnerung. Erinnerung ist ein interessantes Thema ... Ich habe ein Stück rekonstruiert, und es war bei dieser Arbeit, dass ich festgestellt habe, dass ich etwas anderes brauche als nur das Tanzen. Für dieses Stück war ich über Monate nur mit Tanzen beschäftig; es ist das einzige Stück in meiner Profikarriere, in dem ich 15 Minuten am Stück tanze. Davor hatte ich nur Stücke gemacht, die eher wie Performances sind.
MP: War die Rekonstruktion wie eine Tatortrekonstruktion? Du legst oder stellst dich an die Stelle der Person, die tot ist?
MN: Ja. Aber bei Tatortrekonstruktionen mit vergewaltigten Frauen werden auch Emotionen reinszeniert - weil sie sich an etwas erinnern. Ich habe Tänze aus einem Zyklus mit dem Titel "Affectos Humanos" rekonstruiert: die Tänze "Hass", "Begierde" und "Angst". Ich musste mich mit diesen Gefühlen auseinandersetzen, habe auch darüber geschrieben und für zwei Magazine Berichte verfasst, was sehr wichtig war. Irgendwann habe ich bemerkt, dass es nicht mein Ding ist, es so weit zu treiben: Um das Stück tanzen zu können, musste ich jeden Tag trainieren. Letztes Jahr habe ich das Stück zum letzen Mal aufgeführt, und hatte es davor ein halbes Jahr nicht getanzt. Ich habe es nicht "wirklich richtig" gemacht ... aber hätte ich es richtig tanzen wollen, hätte ich mit Sicherheit 2 bis 3 Wochen trainieren und proben müssen. Das finde ich zu einseitig.
MP: Wie lange täglich?
MN: 6 Stunden.
MP: Wo wird es einseitig? Was ist einseitig?
MN: Ich habe gemerkt, dass mein Interesse die Schnittstelle zwischen Sprache und Körper ist, nicht nur der Körper. Insofern einseitig. Wenn man Interesse hat, nur den Körper zu betrachten, ist es nicht einseitig.
MP: Wenn es um Hass, Begierde und Angst geht, ist es ein sehr emotionales Stück? Ich hatte mir nämlich gedacht, es handelt sich um ein sehr abstraktes, reduziertes Stück.
MN: Ist es auch. Das ist das Interessante an Dore Hoyer. Sie hat "Affectos Humanos" mit 57 gemacht. Sie hat sich sehr menschliche Themen genommen. Man könnte auch eine Geschichte über Angst erzählen. Dore Hoyer hat aber immer versucht, zu abstrahieren. Sie arbeitete in ihren Choreografien mit Modulen, hatte Bewegungssequenzen, die sie in Variationen einsetzte. Jeder Tanz dauert 4 Minuten und hat eigene Module. Das ist eine choreografische Leistung. Das Stück hat eine sehr klare Raumkonzeption. In "Hass" gibt es 5 Bewegungen, und die werden variiert, so, dass du es beim ersten Kucken gar nicht siehst. Dadurch bekommt das Stück eine Kühle, eine Distanz. Es gibt Texte, wo gesagt wird, dass Dore Hoyer nicht Angst tanzt oder darstellt, sondern die Struktur von Angst zeigt.
MP: Eine intellektuelle Art zu tanzen?
MN: Ja. Aber sie hat auf der anderen Seite mit einer unglaublichen Intensität gearbeitet, mit hoher Körperspannung und sehr hoher Konzentration. Es gibt Berichte über Leute, die sie live gesehen haben und in der Pause kotzen gehen.
MP: Warum?
MN: Man kann immer nur den Leuten glauben, die davon berichten. Sie muss eine unglaubliche Wirkung gehabt haben.
MP: Wann war das?
MN: 1962, Deutschland. Dore Hoyer war eine Bühnensau. Sie hatte ein kaputtes Knie und konnte nicht mehr auf der Bühne tanzen, und hat sich das Leben genommen. Sie hatte, glaube ich, einen Hang dazu, aber im Abschiedsbrief hat sie geschrieben, dass sie in der Gesellschaft keine Funktion mehr hat. Wenn das für dich die einzige Möglichkeit ist, mit Leuten in Verbindung zu treten, eine Funktion zu haben, Wichtigkeit, dann wirst du im Tanz sehr stark. Dann geht dein ganzes Wollen hinein, dein ganzes Müssen. Du musst es machen, und willst es auch. Es gibt Berichte, dass sie auf der Bühne in Gruppenstücken ganz genau wahrnimmt, wo die Leute sind: Sie war sehr exakt in ihren eigenen Choreografien, und wenn jemand 20 cm falsch stand, hat sie das gesagt, ohne es zu sehen. Sie muss hochsensibilisiert auf die Bühne gegangen sein.
MP: Warum hast du dieses Stück rekonstruiert?
MN: Wir, die Gruppe, mit der ich gearbeitet habe, haben Videos gekuckt und zufällig dieses Video gefunden. Normalerweise verpufft Tanz auf Video und es war unglaublich, was für eine Intensität da noch rüberkommt. Auch von der Choreografie waren wir sehr angetan und haben uns ein Konzept ausgedacht, wo wir diesem Material zeitgenössisches Bewegungsmaterial gegenüberstellen wollten. Irgendwann war es dann aber konsequent zu sagen, es wird rekonstruiert. Mich hat das am meisten interessiert.
MP: Hattest du ihren Part?
MN: Ja. Bei "Hass" habe ich mit einem kleinen Mikrofon gearbeitet. Wir nahmen meine Atmung auf. Danach setze ich mich und drücke auf "Play". Das Licht geht aus, und du hörst den Atem: ein Spiel mit Erinnerung, eine Rekonstruktion anhand des Atems. Diese Wahrnehmung ist sehr intensiv für die Leute, weil das Mikro an Mund und Nase war und der Sound unheimlich laut ist - viele haben die Assoziation mit Sex. Einige versuchen zu rekonstruieren und verstehen das Spiel. Ich möchte dieses Stück nicht mehr tanzen, letztes Jahr im Dezember war die letzte Aufführung. Ich hätte es nicht durchgezogen, hätte ich nicht darüber geschrieben. Ich war immer viel alleine im Studio und hatte viele Einfälle und Gedanken übers Tanzen, einen Affekt, den ich eben behandelt habe, oder Erinnerungen. An manchen Tagen musste ich mich alle 10 Minuten hinsetzen und schreiben. Intensive körperliche Phasen setzen sehr viele Gedanken frei ... Kann ich dich was fragen? Dein Bauchweh heute Nachmittag, in was für einem Zusammenhang siehst du das?
MP: Ich glaube, ich war verkrampft. Die letzten 2 Wochen ist viel passiert, und heute Abend noch einmal hinausgehen, noch einmal etwas tun ... Früher hatte ich während der Regel ganz schlimmes Bauchweh, aber jetzt schon lange nicht mehr. Gestern Vormittag war ich bei einer Bekannten, die Energiearbeit mit mir gemacht hat, weil es mir letzte Woche nicht gut ging, danach war Labor ... immer sofort was nachschieben ... danach das gemeinsame Fortgehen. Mein Körper sagt immer, was er braucht. Ich muss einfach aufpassen, sonst falle ich in mich zusammen, ich muss rechtzeitig die Bremse ziehen. Ich habe in meinem diese Woche verfassten Text "sprach-, wert- und schmerzlos" über Sprachlosigkeit nachgedacht und über dieses Gefühl von Sich-Auflösen. Ich denke darüber nach, wo das herkommt, wo Gefühle herkommen, wo Denken herkommt und wo im System Löcher sind, die mich hinaussaugen.
MN: In deinem eigenen System?
MP: Ja, auch im Familiensystem. Du hast zuerst von deiner Familie geredet. Da ist auch bei mir irgendwo ein Loch, wo Sprache und Wert begraben liegen. Der erste Schritt, mir eine Sprache anzueignen ging über den Körper. Jetzt gehe ich wieder zur Sprache zurück und zur Erinnerung.
MN: Du hast gestern vom Schneiden erzählt. Und gestern Abend musste ich plötzlich daran denken, dass ich mich als Junge ganz viel aufgekratzt habe.
MP: Das ist oft so, glaube ich, dass du erst im Nachhinein Dinge benennen kannst. Als ich klein war, habe ich mir die Haare ausgerissen, weil ich so einsam war, und mich damit im Bett gestreichelt. Vor kurzem bin ich draufgekommen, dass diese Sache einen Namen hat, dass das "etwas ist". Als Kind hast du ja nicht die Kapazität darüber zu reflektieren, und die Erwachsenen haben das offensichtlich auch verabsäumt. Erst viel später ordnest du es ein.
MN: Auch ich finde diese Löcher. Ich wollte mit Tanzen etwas lösen. Jetzt merke ich, es hat geholfen, aber es hat nicht ... Es ist ohnehin die Frage, ob das zu lösen ist.
MP: Ich bin heilfroh über alles, was ich gemacht habe. Ich würde nie sagen, man soll solche Dinge nicht machen, auch wenn sie scheinbar noch so extrem sind. Alles, was ich tue, ist Teil einer Bewegung.
MN: Auf jeden Fall. Ich komme aus einer Extremphase, exzessives Reisen, exzessives Saufen, exzessiver Sex, das ist auch destruktiv, also sage ich erstmal: Stop.
MP: Was Bewegung betrifft: Ich war ein Jahr in Amerika und wollte, seit ich dort war, immer zurück. Ich war in Frankfurt, in Braunschweig, und jetzt möchte ich gerne länger an einem Ort sein, um genauer schauen zu können, was los ist. Ich will meine Wünsche nicht immer auf einen anderen Ort projizieren, auf einen Zustand, in dem ich viel lieber wäre. Immer dieses: Ich will dort hin - mit recht drastischen Mitteln ... Wenn du aus so einer Phase rauskommst, sich etwas verändert, bist du auf einmal weniger interessant. Du hast einen bestimmten Bekanntenkreis und die erwarten was von dir. Videos wie "Der Schlaf der Vernunft" mache ich nicht mehr, das ist nicht cool. Es fiel mir nicht immer leicht, meine Entscheidung vor mir selbst zu rechtfertigen. Immer habe ich mit Auffälligkeiten gepunktet: Das macht dich härter, interessanter, und du hältst dir die Leute vom Leib - sie haben Respekt, sie halten Abstand - weil du ihnen so fremd bist. Skinheads haben diese Aversion gegen Fremde, inszenieren sich aber selbst permanent als fremd. Mit 16 habe ich mich in dieser Szene wohl gefühlt.
MN: Gestern habe ich eine Freundin getroffen, die ich aus Amsterdam kenne. Jetzt hat sie eine Tochter und lebt mit ihrem Freund. Es ist wie vor der Wahl zu stehen: Entweder im Exzess aufgehen, immer wieder - und da bleiben. Entweder kann ich Tanzstücke machen über Affekte, diese Intensität immer wieder aufsuchen, mir immer wieder Frauen aufreissen, oder das tun, was du beschrieben hast - einfach normal sein ... wollen. Ich muss an einen Freund denken, der sich sterilisieren hat lassen und das damit begründet, dass ihn seine Sterilisation froh macht, weil ihn das aus diesem "Familien-Kreislauf" völlig rausnimmt. Aber bloss, weil man zu Hause solche Scheisserfahrungen gemacht hat, heisst das doch nicht, dass man sich der sogenannten "Normalität" durch Exzess entziehen muss. Das ist: die totale Macht meinen Eltern geben, meiner Vergangenheit. Das würde mich wirklich frustrieren.
MP: Ich möchte nicht mit so einem Menschen zusammensein, weil es für mich eine Art Lieblosigkeit oder Respektlosigkeit einer Sache gegenüber repräsentiert, die mir wertvoll ist. Ich weiss, was Lieblosigkeit ist. Diese Abstumpfung möchte ich nicht mehr.
MN: Bei einem Paar mit 3 Kindern ist es etwas anderes. Aber hier, das ist ein Paar, die haben sich zusammen sterilisieren lassen, ohne Kinder. Sie ist 23, er älter. Die haben sich gesucht und gefunden, glaube ich. Sie sind auf einer Linie, die sie rausnimmt aus dem Normalen. Damit kokettieren sie auch.
MP: Wenn man wie du und ich viel mit dem Körper gearbeitet hat, weiss man, was Narzissmus ist, wie man sich daran aufgeilt, dass man vorne steht, alle Respekt haben, man die Leute mit dem Körper vor den Kopf stossen kann. Ich denke, wenn ich ein Kind habe, ist das eine Möglichkeit, die Erfahrung zu machen, dass ich nicht ganz so wichtig bin. Das bringt mich woanders hin. Deshalb denke ich, wenn jemand sagt, er will kein Kind, dass das sehr egobezogen ist, und er lieber selbst noch ein Kind sein will.
MN: Es hat etwas sehr Narzisstisches. Die beiden haben das Gefühl, sie haben jetzt Macht, Macht über sich. Aber ich habe das Gefühl, sie haben Macht abgegeben und der Familie alle Macht gegeben. Was mir missfällt ist, damit zu kokettieren - dieser narzisstische Aspekt. Man muss es irgendwann kapieren, sonst wird es zur Sprachlosigkeit.
MP: Du ergibst dich in deine Sprachlosigkeit, die du nur mehr über den bzw. gegen den Körper ausdrückst.
MN: Das ist ein Aufgehen in einem Loop, in einer narzisstischen Schlaufe: Ich mache etwas, das mich rausnimmt aus dem, was mir Probleme bereitet, das macht mich cool, und es braucht wieder etwas Neues, das mich noch einmal rausnimmt, damit ich es weiter cool finden kann. Wenn das aufhört, dann musst du dir überlegen, was ist es? Wie kann ich es anders mitteilen, als dass ich mir die Samenstränge durchschneide oder mich jeden Abend besaufe ...
MP: Es geht darum, sich einer Sache zu widersetzen, die einen anscheisst. Eine Zeit lang macht man das durch Saufen. Damit widersetzt man sich aber eigentlich nicht, man ergibt sich.
MN: ... oder durch Weggehen, ständiges Umziehen ... Schwierig finde ich es immer dann, wenn es einen selbstzerstörerischen Aspekt kriegt. Es hat immer mit Sprache zu tun.
MP: In dem Moment, wo ich mich schneide oder du dich kratzt, ergibt man sich in die Sprachlosigkeit. Du nimmst dich als Unterlage für eine ziemlich brutale Schrift, weil du dich nicht anders mitteilen kannst. Aber Selbstzerstörung lässt sich nicht darauf reduzieren und schon gar nicht festlegen.
MN: Ich würde das nicht verdammen. Manchmal geht es nur so, weil du nur im Rahmen deiner Körperlichkeit oder körperlichen Aktivität - wie auch immer die geartet ist, schneiden, kratzen, trinken - die Erfahrung machen kannst, dass du etwas versprachlichst. Bestimmte Reibungen ergeben sich nur so.
MP: Reibungen oder Ventile. Trinken ging bei mir früher immer nur mit Finger und Kotzen. Man entäussert sich, irgend etwas kommt heraus. Mit dem Blut ist es das Gleiche: Sprache kommt zwar nicht raus, aber irgendwas, das sich ziemlich fett und breit macht, wo deine ganze Aufmerksamkeit draufsitzt und die Aufmerksamkeit vom Rest, der dich stört, wegnimmt ... Wie wird es bei dir weitergehen?
MN: Ich werde erstmal von Frankfurt nach Berlin ziehen und in Berlin bleiben ... wobei es letztlich, wenn du dich entscheidest zu bleiben, egal ist, wo du bist. Der Rest ist offen. Zum einen werde ich nicht mehr für Leute performen.
MP: Für oder mit?
MN: Für Choreografen. Mit Tom und Alice war das ein Zwischending - wobei Tom derjenige war, der letztlich inszeniert hat. Für Leute arbeiten heisst, deren Ideen umzusetzen. Das finde ich sprachlos.
MP: Körper als Instrument?
MN: Du selbst. In zeitgenössischen Tanzstücken ist ja nicht nur Tanz, sondern das ganze Wesen gefragt. Wenn man für andere performt spricht man zwar viel untereinander, aber ich habe immer mehr das Gefühl, ein Instrument und insofern sprachlos zu sein.
MP: Es ist nicht dein Text.
MN: Es ist der Text von dieser Choreografenperson. Das will ich nicht mehr machen. Deine Texte, der, den du hier geschrieben hast, und der vom Highway 101 Journal, finde ich spannend. Das interessiert mich auch: persönlicher schreiben. Da muss ich noch kucken.
MP: Wenn man "persönlich" schreibt, heisst das nicht, dass man gefühlsduselig schreibt. Mir ist der Sprachduktus sehr wichtig. Ich mache kurze Sätze, möglichst kurz und klar, und bemühe mich, dass da nicht diese Emotionalität reinkommt - wobei das vielleicht Härte ist. Es hat eine klare Form, darum geht es mir. Ich bin Formfetischistin.
MN: Emotion kann für mich auch in einem Text sein, wenn die Form klar ist. Die Berichte, die ich über die Rekonstruktion geschrieben habe, sind sehr persönlich, aber in der Form distanziert. Jetzt interessiert mich eine direktere Sprache, wo meine Stimme im Text klarer zu hören ist ... Ich habe jetzt ein Jahr lang nur Labors gemacht. 4 Labors.
MP: Geht es immer mehr in Richtung Text und Sprechen bei dir?
MN: Immer mehr in Richtung Mischform. Kennst du "Forced Entertainment"?
MP: Nein.
MN: Das ist eine Theatergruppe aus England, die im Moment sehr viel reisen und viel gezeigt werden, aber bevor sie bekannt wurden schon 10 Jahre im Niemandsland, wo niemand sich um sie gekümmert hat, zusammen gearbeitet haben. Sie machen richtig gute Arbeit, wo es um Sprache und um marginale Zustände geht - sehr direkt, eher holzig. Für ihr Stück "quizoola" ist im Theater ein Zelt aufgebaut - du kannst rein und rausgehen, das Stück dauert 6 Stunden - und eine Person sitzt am Eingang, liest, zwei sitzen auf der Bühne. Sie wechseln sich ab. Die Personen auf der Bühne haben einen Fragenkatalog und stellen ihrem Partner Fragen, alle möglichen Fragen, von: Was hast du heute morgen gegessen? bis: Was ist die schlimmst Lüge, die du je erzählt hast? oder: Was ist dein grösstes Geheimnis? Der andere antwortet. Er kann immer lügen, klar. Wenn die Person, die fragt, keine Lust mehr hat, wechseln sie ab. Ich habe fast die ganze Zeit durchgesessen.
MP: Geht es hier um Sprache? Spielen sich die Emotionen alle im Kopf der Betrachterinnen ab?
MN: Es ist eine Versuchsanordnung vor Leuten. Du siehst als BetrachterIn, wie sie reagieren, sie spielen das nicht. Sie filtern, das ist klar, aber sie stellen nicht "Nachdenklichkeit" dar, oder "Genervtheit". Aber sie sind manchmal genervt oder wollen eine Frage nicht. Es gibt die Option, Next! zu sagen.
MP: Das heisst, du willst nicht mehr für Leute performen sondern selbst Stücke schreiben?
MN: Ja, das interessiert mich. Da muss ich einfach ins Studio gehen und herumprobieren, das ist immer ein schwieriger Schritt - weil ich nicht genau weiss, wie ich es machen soll. Das ist ein anderer Aspekt: Ich will mir Zeit lassen. Ich kenne es gut, einen Entschluss zu fassen und mich hineinzustürzen, und das mit dem Kopf durch die Wand zu tun. Das steht nicht an. Wir haben uns aufgelöst, wir, das ist diese Dreiergruppe, ich und Tom und Alice. Tom ist der, der sich hat sterilisieren lassen, der wird langsam sprachlos. Er hat sich sofort ins nächste Projekt gestürzt, hat gleich die nächste Gruppe gegründet. Alice ist noch sehr jung, 23 oder 24, und hat sich auch gleich reingestürzt, hat ein Solo gemacht und macht jetzt ein Duo. Das war alles im letzten Jahr, und ich frage mich: Wie können die das, wie geht das? Ich hätte das nie machen können. Ich habe gedacht, ich muss erst einmal kucken, was da ist. Wie lange sitzen wir jetzt schon? Ah, du hast die Kamera auf "Longplay" geschaltet!
MP: Oh, Scheisse!
MN: Na dann ...
MP: Scheisse, eineinhalb Stunden, sehr gut ... Hm, das zerstört mein Konzept!
MN: Eh gut!