Touche

von Stefan Nowotny

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1. "Dem Schreiben", schreibt Jean-Luc Nancy, "widerfährt also nichts anderes, wenn ihm etwas widerfährt, als zu
berühren. Genauer: den Körper (oder vielmehr, diesen oder jenen singulären Körper) mit dem Unkörperlichen des ‚Sinnes' zu berühren. Und folglich: das Unkörperliche berühren zu machen oder aus dem Sinn eine <Berührung> / einen Tonfall zu machen."1

Es ist fast unmöglich, jenes französische Wort zu übersetzen, das ich hier unbeholfen als "<Berührung>" und "Tonfall" wiedergegeben habe: une touche. Seiner offensichtlichen Herkunft von "toucher" (berühren) entsprechend, müsste es eigentlich "Berührung" heißen, wenn die französische Sprache dafür nicht im Allgemeinen das Wort "contact" bevorzugen würde (bzw. im Spezielleren die Substantivierung "le toucher" für bestimmte Qualitäten des Berührens oder "l'attouchement" für zärtliche Liebkosungen und sexuelle Berührungen). Dennoch behält auch "touche" eine Vielzahl von Anklängen an verschiedene "Berührungen": Es kann "Pinselstrich" bedeuten, die Tasten eines Klaviers oder das Griffbrett eines Saiteninstruments bezeichnen; daher rührt auch die Möglichkeit seiner figurativen Verwendung im Sinne von "Tonfall", "Note" oder "Anstrich" (so wie man sagt, etwas könne eine heitere oder traurige Note, einen heiteren oder traurigen Anstrich haben; im Deutschen wird dafür heute verstärkt das englische "Touch" verwendet). "Touche" bezeichnet aber auch die Tasten einer Schreibmaschine oder eines Computers - auch das verwandte deutsche Wort "Tusche" stellt übrigens einen direkten Bezug zur Tätigkeit des Schreibens her. Schließlich kann "touche" einen Stich beim Fechten meinen, oder aber das Anbeißen eines Fisches - davon abgeleitet heißt dann etwa die Wendung "faire une touche": "jemandes Gefallen auf sich ziehen", "eine Eroberung machen".

Eine ganze Palette von <Berührungen> klingt also im Wort "touche" an, körperliche <Berührungen>, die doch nicht "contact" sind, nicht, oder zumindest nicht direkt, Berührung zwischen Körper und Körper, sondern vielfach (und im Falle des Schreibens jedenfalls) <Berührungen>, Resonanzen zwischen Körper und Sinn. Nancy beeilt sich übrigens hinzuzufügen, dass es ihm keineswegs um eine Lobrede auf eine "anrührende Literatur" gehe ("Denn ich weiß das Schreiben vom Rosenwasser zu unterscheiden, aber ich wüsste kein Schreiben, das nicht berührt"). Schreiben muss nicht "rühren" oder "anrühren", um zu <berühren>. Was bedeutet aber dann touche? "Das Schreiben berührt die Körper / fasst die Körper an gemäß der absoluten Grenze, die den Sinn des einen von der Haut und den Nerven der anderen trennt. Nichts geht über, und eben darin berührt es"2, schreibt Nancy.

Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass die touche zwischen Sinn und Körper sich auf das Schreiben im engeren Sinn beschränkt. Welche Art von "Berührung" ist es also, die das Wort touche nennt?


2. Halten wir zunächst den Anlass des vorliegenden Textes fest: Er geht auf ein zweiwöchiges Labor zurück, das vor gut vier Monaten im Tanzquartier Wien stattgefunden hat und an dem ich gemeinsam mit der Performerin und Laborinitiatorin Sabine Sonnenschein, der Tanztheoretikerin Nicole Haitzinger, der Videokünstlerin Michaela Pöschl und dem Performer Martin Nachbar teilgenommen habe.

Ein zentrales Thema dieses Labors 3.2 aus der Serie "Labor für Performance und postdramatisches Agieren" war, wenngleich so nicht präzise formuliert, das Verhältnis zwischen Politik und Körper. Touche. Dieses Thema zeichnete sich schon in den ausgewählten Grundlagentexten für dieses Labor ab: Texte von Hannah Arendt über das Handeln und den politischen Raum; Texte von Maurice Merleau-Ponty über den Körper und den Chiasmus. Touche. Es wird also über Körper gesprochen, nicht nur im Allgemeinen, sondern auch, indem wir uns voneinander erzählen. Touche. Es wird geschwiegen. Touche. Da es sich um ein "Labor für Performance und postdramatisches Agieren" handelt, wird (abgesehen von täglichen Einheiten körperlichen Trainings) der Versuch unternommen, das Gesprochene mit körperlichen "Experimenten" zu verbinden, sozusagen Übersetzungen zwischen touche und contact zu erproben. Touche.

Am Ende der ersten Woche gehen wir, mit Aufnahmegeräten und Fragen ausgestattet, zu einer von Neonazis auf dem Wiener Heldenplatz abgehaltenen Demonstration gegen die zweite Version der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", die gerade eröffnet hat, sowie zu den dadurch veranlassten Gegendemonstrationen; wir mischen uns dazwischen, fangen Bilder und Gespräche ein, durchleben unterschiedliche Affekte angesichts der starr formierten und später von der Polizei ebenso starr abgeschirmten Körper der mehrheitlich jugendlichen Neonazis, auf der anderen Seite angesichts der handfesten Auseinandersetzungen (
contacts) zwischen der Polizei und linken GegendemonstrantInnen. Touche. (Tusch.3) Ein Demonstrant antwortet auf die Frage, warum er es für notwendig halte, zu demonstrieren: "Um meine Anliegen sichtbar zu machen." Touche. Am selben Abend: Sabine und ich bei einer Podiumsdiskussion über die Wehrmachtsausstellung, bei der es ebenfalls zu Handgreiflichkeiten kommt. Touche.

Die zweite Woche: Wir sehen uns ein Video über medizinische Experimente an, die nationalsozialistische Ärzte an so genannten VPs (Versuchspersonen) im Konzentrationslager Dachau durchgeführt haben. Touche. Wir sehen Videos von Michaela, die sich in sehr unterschiedlicher Weise mit dem Körper, seiner Widerständigkeit, Schwäche, Einsamkeit, mit Schmerz, Sex, Ohnmacht auseinander setzen. Touche. Schließlich kommt es zu den beiden "öffentlichen Terminen" des Labors, bei denen wir das Publikum, einzeln oder in kleinen Gruppen, in Gespräche zu verwickeln versuchen; auf dem Weg ins Studio passieren die BesucherInnen Videos von den Demonstrationen, im Studio selbst sind im Hintergrund Tonaufnahmen von den Demonstrationen zu hören. Touche. Nicole und Martin verlagern am zweiten Abend den Kontakt außerhalb des Tanzquartiers, zurück auf den Heldenplatz, sie nehmen dort neue und andere Kontakte auf. Touche.

All diese Situationen durchziehen <Berührungen> zwischen Körper und Sinn, die im Kontakt ebenso wenig aufgehen wie im Gespräch. Weder gibt es eine direkte Entsprechung zwischen den verschiedenen "Kontakten" (ob es sich dabei um unmittelbare körperliche Kontakte handelt oder, im weiteren Sinn, um Wahrnehmungen, um Begegnungen etc.) und der Art und Weise, wie sie sich in eine bestimmte Sinnkonstellation "einschreiben", noch können diese <Berührungen> einfach zum Thema gemacht oder "kommuniziert" werden, ohne das, was sich als Thema und Kommunikation herausgestellt haben wird, mit einer bestimmten Note zu versehen oder in sie als Tonfall zu intervenieren.

Den vorliegenden Text schreibe ich in die Tasten des Computers, nachdem ich die anderen Texte zum Labor gelesen habe; wie diese anderen Texte auch entsteht er nicht allein aus dem Kontakt, dem Austausch oder der Kommunikation, sondern aus der spezifischen Energetisierung, die das Labor hinterlassen hat. Sein Titel benennt nicht nur, worüber er spricht, sondern: was er ist.


3. Der Körper tritt nicht
in Kontakt mit dem Sinn. Seine <Berührung> mit dem Sinn ist anderer Art, und vielleicht kann erst von dieser Differenz aus die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Politik gestellt werden.

Die <Berührung>, die touche zwischen Körper und Sinn hat übrigens auch wenig mit der Differenz zwischen "Körper" und "Geist" zu tun. Jedenfalls so lange nicht, solange man sich, in der Tradition Descartes', im Horizont absoluter Unterscheidungen zwischen einem körperlosen, denkenden Geist und einem durch Ausdehnung bestimmten Körper bewegt; oder auch im Horizont der immer noch in diese Tradition verfangenen Auflehnung gegen sie, die im Namen und zur Verteidigung des Körpers (seiner Intensitäten, seines Genießens oder seines Schmerzes) den "Geist" oder das "Denken" unter den Verdacht stellt, das Andere, das Entfremdende, die Verkennung des Körpers zu sein.

Der Körper, darauf hat Merleau-Ponty in der Nachfolge Husserls nachdrücklich den Blick gelenkt, bildet weder ein Abseits zu den Tätigkeiten des "Geistes" noch deren bloß "äußerliche", dinghafte Entsprechung. Ebensowenig verbürgt er jedoch eine Unmittelbarkeit oder Authentizität der Existenz - der Empfindungen, der Lust, des Schmerzes, des Kontakts -, die sich in Sprache und Denken verflüchtigte oder verlöre. Der Körper gehört weder ganz in die Ordnung des Objekthaften, noch ganz in jene des Subjekthaften. Er ist eigener "Ordnung" und manifestiert sich daher in beiden zugleich; eben darum kann sich in ihm auch, wie Merleau-Ponty schreibt, jenes "Überkreuzen von Berührendem und Berührtem"4 ereignen, das den Kontakt des Körpers mit anderen Körpern (oder mit dem eigenen, wenn ich z. B. mit der linken Hand meine rechte Hand berühre), aber auch seine touche mit der Welt kennzeichnet.

(Eine ähnliche Unentscheidbarkeit bzw. eine ähnliche doppelte Zugehörigkeit zeigt sich daher bezüglich der Frage, ob der Körper eher einem aktiven Vermögen oder aber eher einem passiven Vermögen entspricht: Noch im "Akt" des Aufstehens ist der Körper "passiv" gegenüber dem Widerstand des Bodens unter seinen Füßen, ohne den er sich nicht erheben könnte. Das Vermögen des Körpers ist nie ein Tun-Können, ohne zugleich auch ein Leiden-Können zu sein.)

Wenn der Körper aber nicht die Authentizität (im Wortsinne des "sich selbst Vollendenden") der Existenz darstellt, so bildet er doch deren "sinnliche Masse" (Merleau-Ponty), deren sinnlichen Raum zugleich, durch den es beispielsweise möglich ist, "dass der Schmerz selbst seinen Ort anzeigt, also einen ‚Schmerzraum' konstituierend"5. Schmerzraum, Orientierungsraum, Wahrnehmungsraum, Bewegungsraum: Der Körper ist Ort und Verortung der Existenz, und zwar nicht im Sinne der "Stelle", an der er - Ding unter anderen Dingen - vorkommt, sondern präzise im Sinne des Ortes, an dem sich die vielfältigen Räume und Räumlichkeiten des Existierens öffnen - oder aber (aufgrund dieser Öffnung) verschließen können.

Genau aus diesem Grund kann Merleau-Ponty letztlich die Frage stellen: "Wo sollen wir die Grenze zwischen Leib und Welt ansetzen, wenn die Welt Fleisch ist?"6 Fleisch heißt hier: die "Generalität des Empfindbaren"7 , die "andere Seite" gewissermaßen (wenn es sich denn um eine andere Seite handelte) des Chiasmus, der Verflechtung von Körper und Welt.


4. Von hier aus muss auch die Frage nach der
touche, der <Berührung> von Körper und Sinn gestellt werden. Geben wir zunächst der Frage Merleau-Pontys eine neue Formulierung: Wo sollen wir die Grenze zwischen Leib und Welt ansetzen, wenn der Körper Welt ist? Dass der Körper Welt ist, will sagen: Der Körper ist von der Welt touchiert, und zwar nicht wie von einem Objekt, an das er (oder auch sein Sehen) stößt - er ist vielmehr vom Sinn der Welt touchiert.

Unter dem "Sinn der Welt" ist hier natürlich nicht ein letzter oder einziger Sinn zu verstehen, der der Welt ein für allemal unterlegt wäre und der die Welt gegen die Anfechtungen des Unsinns (etwa des unsinnigen Leidens) zu rechtfertigen imstande wäre. Die Rede von einem Sinn der Welt zielt darauf ab, dass die Welt immer schon von Sinn durchdrungen ist, der in ihr zirkuliert, ihre "Elemente" miteinander verbindet, sich modalisiert und transformiert und der Welt eine bestimmte "Note", eine bestimmte touche verleiht. Diesem Sinn steht nicht der Unsinn als Negation des Sinns gegenüber, sondern der Körper (die körperliche Existenz), der ihn touchiert und von ihm touchiert wird.

Jean-Luc Nancy zitiert die folgende Notiz aus dem Nachlass Freuds: "Psyche ist ausgedehnt: weiß nichts davon."8 Die Psyche ist also Körper, und genau dies - nicht der Körper, sondern das Körpersein der Psyche - ist es, wovon sie nichts weiß, worin sich also das "Unbewusste", ja eine Topik des Unbewussten konstituiert. Das heißt nun umgekehrt gerade nicht, dass der Körper ganz "Psyche", ganz Bedeutung ist; eher schon ist es genau das Körpersein der Psyche, das den prekärsten Punkt der Psychoanalyse darstellt, ihre (absolute) Grenze möglicherweise, jedenfalls sofern sie die touche zwischen Körper und Sinn in eine Passage des Bewusstseins (bzw. in ein Bewusstsein) aufzuheben versucht.

Nancy stellt deshalb jenem psychoanalytischen Diskurs, der im hysterischen Körper den exemplarischen Fall eines "mit Bedeutung gesättigten Körpers" sieht, eine andere Interpretation der Hysterie entgegen: Es handle sich um "eine vollständige Parasitage des Unkörperlichen des Sinnes durch den Körper, bis zu dem Punkt, an dem das Unkörperliche stumm gemacht wird, um an seiner statt eine Stelle, eine Zone der A-signifikanz zur Schau zu stellen"9. Das Exemplarische des hysterischen Körpers liegt demzufolge gerade darin, dass er "eine reine Konzentration in sich, ein reines Zu-sich-Sein seiner Ausgedehntheit" sichtbar werden lässt, "das seine Ausdehnung, seine Raumwerdung (espacement) negiert und katatonisiert"10.

Es ist eine reine Intensität, die sich hier als unausdrückliche "Wahrheit" des Körpers zeigt (so wie es in jeder Lust und in jedem Schmerz etwas gibt, das nicht zum Ausdruck gelangen kann). Doch bedeutet dies nicht einfach, dass der Sinn (dieser oder jener ausdrückbare Sinn, diese oder jene bestimmbare Bedeutung) dem Körper "äußerlich" wäre, wie zwei Dinge einander äußerlich sind. Der Sinn implodiert vielmehr im Körper, und genau darin bleibt der Körper, Überkreuzung von <Berührendem> und <Berührtem>, auf das "Außen" des Sinnes als solchen bezogen: Überkreuzung, die nicht Übergang vom einen ins andere ist; "Bezug", der nicht Verhältnis ist, in dem ein Austausch der Rollen immer denkbar bleibt, sondern eben Singularität der <Berührung>.

In der touche spiegelt sich weder der Sinn im Körper noch auch der Körper im Sinn. Die touche durchzieht ein Riss, ein Bruch zwischen Körper und Sinn - "gemäß der absoluten Grenze" (Nancy), entlang deren sie sich <berühren>. Aus diesem Grund ist auch der Ausdruck nicht einfach, wie Merleau-Ponty es wollte, der Übergang, der die "Enthüllung" der körperlichen Existenz in der Sprache garantiert. Der Ausdruck bleibt selbst von diesem Riss durchzogen. So wie die körperliche Existenz von Zonen reiner Intensität untrennbar ist, so ist die Sprache von Zonen des Schweigens untrennbar, die sie nicht nur umgeben, sondern ihr innewohnen.


5. Der Riss zwischen Körper und Sinn, der den Ausdruck in seinem Inneren durchzieht, ist seit den Tagen der griechischen Polis in die Konstitution des Politischen selbst eingegangen. Aristoteles bestimmt in seiner "Politik" die Sprache im Sinne des
lógos als Ermöglichungsgrund der politischen Gemeinschaft: Nur weil er ein zôon lógon échon ist (das heißt: über den lógos verfügt), ist der Mensch auch ein zôon politikón (politisches Lebewesen). Den lógos, der dazu bestimmt ist, "das Nützliche und Schädliche deutlich kundzutun und also auch das Gerechte und Ungerechte", unterscheidet Aristoteles jedoch von der phônê, der bloßen Stimme, die "nur das Angenehme und Unangenehme"11 anzeigt und die im Gegensatz zum lógos nicht ausschließlich dem Menschen vorbehalten ist, sondern auch den Tieren zukommt.

Es scheint, als bilde die phônê hier gewissermaßen das körperliche Moment der Sprache, als würde sie genau aus diesem Grund als Nicht-Sprache aufgefasst (oder jedenfalls nicht als Sprache im Sinne des lógos) und als entspreche die Grenze zwischen phônê und lógos eben jenem Riss zwischen Körper und Sinn, der den Ausdruck durchzieht. Paradoxerweise wäre demzufolge die "Stimme" selbst eine Zone des Schweigens im Inneren der Sprache.

Doch das Problem ist komplizierter: Denn obwohl Aristoteles den Menschen insgesamt als jenes Lebewesen versteht, das mit Sprache begabt ist, sind es nicht alle Menschen, die für die Teilnahme am politischen Leben bestimmt sind. Frauen, Kinder und Sklaven bleiben vom Leben der pólis ausgeschlossen. Ihr Ort ist auf das Haus beschränkt, in dem sie vom männlichen Bürger auf unterschiedliche Weise regiert werden. Das Haus ist für Aristoteles zum einen der natürliche Ort der Fortpflanzung, zum anderen der Ort der Hausverwaltung und Erwerbskunst. Es ist damit auch der Ort der aus dem öffentlichen, politischen Leben ausgeschlossenen Körper: der körperlichen Funktion der Fortpflanzung, die die Menschen mit den Tieren teilen; oder auch der Körper der "Sklaven von Natur", "welche ihre Aufgabe im Gebrauch ihrer Körperkräfte finden" und "an der Vernunft [lógos] nur so weit teilha[ben], um ihre Gebote zu verstehen, ohne sie zu besitzen"12.

Die Grenze zwischen phônê und lógos fällt daher nicht mit der absoluten Grenze zwischen Körper und Sinn zusammen; sie bildet vielmehr die Art und Weise, wie sich das Politische in der touche zwischen Körper und Sinn als eine bestimmte - in sich gebrochene - Sprache einrichtet und so als "Regierungsordnung" errichtet. Das Haus bezeichnet bei Aristoteles in dieser Perspektive den politisch festgelegten Ort eines auf die phônê reduzierten lógos, das heißt: einen Ort, an dem nicht das Gerechte oder Ungerechte verhandelt, sondern allenfalls das Angenehme oder Unangenehme - als eine Art Begleitlärm der politischen Ordnung13 - kundgetan wird.

Dieser Zusammenhang, die Reduktion der Frage nach dem Gerechten auf Fragen des Angenehmen an bestimmten politisch definierten Orten, sollte übrigens nicht für die bloße Kopfgeburt eines Philosophen oder für eine Angelegenheit gehalten werden, die sich auf die antike Demokratie beschränkt. Am 8. Jänner 2002 fand sich im "Standard" unter dem Titel "Unbeirrbare Flüchtlinge" folgende Reuters-Meldung abgedruckt:

"Seine beabsichtigte Wirkung verfehlt hat ein staatlich unterstütztes ‚Abschreckungsvideo', das sich an 17.500 Flüchtlinge gerichtet hatte, die in der Unterkunft Sangatte (nahe des Eurotunnels) auf Einreise nach Großbritannien warteten. Das Video mit dem Titel ‚Würde oder Ausbeutung - Es ist Ihre Entscheidung' zeigt angeblich typisch Britisches wie Eisenbahnerstreiks oder schlechtes Wetter und warnt davor, den Kanal zu überqueren. Nur 17 Flüchtlinge haben sich durch die vom britischen Innenministerium mit umgerechnet rund 226.000 Euro (mehr als drei Millionen Schilling) unterstützte Kampagne beeindrucken lassen und sind abgereist."


6. Die Politik richtet ein
Verhältnis ein, im Falle Aristoteles' und der athenischen Demokratie ein Verhältnis zwischen freien Männern. Als Ordnung des Regierens bestimmt sie dieses Verhältnis zugleich jedoch nicht als Verhältnis aller zueinander, sondern etabliert einen "Mechanismus", ein Dispositiv der Einschließung in dieses Verhältnis bzw. der Ausschließung aus diesem Verhältnis. Dieses Dispositiv begrenzt das Zirkulieren des Sinnes, der zwischen jenen, die in das politische Verhältnis mit eingeschlossen sind, kommuniziert wird. Der Rest ist Lärm, Lärm der phônê, doch "Lärm", der im Inneren einer Sprache wiederkehrt, deren lógos sich auf dem Schweigen der "Stimmen" selbst zu errichten sucht. (Die "Stimmabgabe" etwa in Wahlvorgängen widerspricht dem nicht, sondern unterstreicht vielmehr ihrerseits die Überlagerung der Stimmen durch den politischen lógos bei gleichzeitigem Ausschluss der Stimmen jener, die kein "Stimmrecht" haben.)

Der Körper (die körperliche Existenz) ist dabei nicht einfach nur ausgeschlossen. Er ist zugleich eingeschlossen in den politisch definierten Ort des Hauses (oîkos) und seiner Verwaltung (oikonomía), unterliegt also einer gleichzeitigen Aus- und Einschließung oder dem, was Giorgio Agamben in seiner Analyse der abendländischen Biopolitik14 als "einschließende Ausschließung" bezeichnet hat. Wir finden diese einschließende Ausschließung vor allem jener, "welche ihre Aufgabe im Gebrauch ihrer Körperkräfte finden" (Aristoteles), in unseren Tagen vielleicht am deutlichsten in den Schicksalen der Sans-Papiers und ArbeitsmigrantInnen wieder, die zu Dumpinglöhnen in den informellen Sektoren der Zulieferindustrien und der landwirtschaftlichen Produktion beschäftigt sind, die also gleichzeitig in die ökonomischen Kreisläufe eingeschlossen und aus dem politischen Verhältnis ausgeschlossen sind.

In der politischen Moderne wird der politische Ort des Körpers zunehmend vom Haus auf den Staat verlagert. Diese Verlagerung betrifft die oikonomía selbst, sofern sie in der Moderne im eigentlichen Sinne zur politischen Ökonomie wird. Sie betrifft aber auch den juridischen Ort des Körpers in den modernen Gesellschaften. So weist Agamben auf die zentrale Bedeutung hin, die der Habeas-corpus-Akte von 1679 in der Genese der politischen Moderne zukommt: Zur Wahrung der individuellen Freiheit bestimmt, indem sie dem/der vor Gericht erscheinenden Angeklagten ein gerechtes Verfahren garantiert, führt sie den corpus als Subjekt der Politik ein, dessen Präsenz vor Gericht sicherzustellen ist. Sie verpflichtet damit gleichzeitig die Polizei (mehr noch: definiert auf diese Weise eine ihrer zentralen Aufgaben), "den Körper des Angeklagten vorzuführen und dessen Haft zu begründen"15.

Der moderne Körper ist, abseits seiner vielfältigen Inszenierungen, somit auch durch seine Präsenz vor der Polizei bestimmt. Nur vor diesem Hintergund lässt sich etwa das außerordentliche Interesse des 19. Jahrhunderts an der Entwicklung polizeilicher Identifikationstechniken verstehen, das schließlich um die Wende zum 20. Jahrhundert zur weltweiten Einführung der Identifikation durch Fingerabdrücke führte. (Wir erleben heute - unter dem Verweis auf die Notwendigkeiten des Sicherheitsrechts - die umfassende Ausweitung von digitalisierten Fingerabdruck-Datenbanken, insbesondere zur Identifikation von MigrantInnen, aber auch von ganzen Bevölkerungen.16) Der singuläre Körper wird auf diese Weise (und nicht erst durch die heutige Genetik) zur archivierbaren Matrix der Identität und zugleich der In-dividualität vor dem Gesetz.

Jean-Luc Nancy schreibt, um seinen Gedanken von der absoluten Grenze zu kontrastieren, an der sich die touche zwischen Sinn und Körper ereignet: "Ich verabscheue die Geschichte Kafkas von der Strafkolonie"17 - jene Geschichte also, die exemplarisch von der direkten Einschreibung des "Gesetzes" in die Haut eines Gefangenen erzählt. Tatsächlich muss vielleicht eher jener Gefangene als Prototyp des vollständig polizeilich kontrollierten Körpers betrachtet werden, der sich 1907 in einem Wagen von Scotland Yard mit einem Metallstück die eigenen Fingerkuppen verstümmelte, um so der Identifizierung zu entgehen.18 Als wäre die gegen den eigenen Körper gewendete Gewalt die letzte Zuflucht der Singularität vor der Identifikation. Einige Jahrzehnte davor hatte indes ein schottischer Missionar in Japan bereits eine Reihe von Experimenten durchgeführt und nachgewiesen, dass die Linien an den Fingerkuppen - ob sie nun weggeschnitten, weggerieben oder abgeätzt werden - immer in identischer Weise nachwachsen.

(Der Zufall will es, dass das deutsche Wort "touchieren" in der Sprache der Medizin auch die Bedeutung von "abätzen" hat. Doch "touche" bedeutet gerade nicht, dass der "Sinn" am Körper direkt Gewalt übt; vielmehr gehört es zum Wesen politischer Dispositive, dass sie - indem sie sich in der touche einrichten und abseits jeder Frage der "Legitimation" - nicht nur bestimmte Konfigurationen des Sinnes hervorbringen, sondern auch spezifische Körperdispositionen sowie spezifische Formen von Gewalt.)


7. Unsere Demokratien sind von Ambivalenzen durchzogen, die die Sprache des Politischen ebenso betreffen wie den politischen Ort des Körpers. Sie begründen ein politisches Verhältnis (relativ) freier BürgerInnen, doch zugleich kommt in ihnen ein Dispositiv der Ein- bzw. Ausschließung zur Anwendung, das als solches nicht - oder nur sehr begrenzt - in die Verhandlungen eingeht, die im Rahmen dieses politischen Verhältnisses möglich sind. Dennoch hat gerade die Geschichte der Moderne gezeigt, dass die Grenzen zwischen Ein- und Ausschließung, die politische Verhältnisse definieren, keineswegs absolut sind, sondern beweglich, irritierbar und transformierbar.

Gerade weil die touche, in der sich Körper und Sinn berühren, ohne ineinander überzugehen, nicht mit gleichwelcher politischen Ordnung zusammenfällt, sondern von dieser gleichsam usurpiert wird, bleiben sowohl Sinnproduktionen als auch körperliche Aktions- und Existenzformen möglich, die sich dieser Usurpation, der Vorbestimmung der Sinnkonfigurationen, der Anordnung der Körper, Orte und Sichtbarkeiten widersetzen. Genauer: Sie bleiben nicht nur möglich, sondern bilden eine permanente Wirklichkeit der sozialen Existenz. Diese Sinnproduktionen und diese Aktions- und Existenzformen sind weniger Teil des politischen Verhältnisses als Herausforderung des Politischen im Sinne einer bestehenden Verhältnisordnung, und genau darin liegt ihre eigene eminente politische Bedeutung.

Es ist diese Art von Herausforderung, die heute am deutlichsten im Zusammenhang jener Manifestationen sichtbar wird, die gegen die Verwerfungen der Globalisierung gerichtet sind. Sie nimmt nicht nur in den großen Protestzügen Gestalt an, sondern ebenso in der Konstitution neuer Öffentlichkeiten oder in den offensiven Körperpolitiken der Tute Bianche, der Pink&Silver-Blöcke oder der VolxTheaterKarawane 19. Hier geht es um mehr als nur darum, ein Anliegen auf der Bühne eines gegebenen politischen Verhältnisses sichtbar zu machen - gemäß der Vorstellung Hannah Arendts, wonach das Theater die politische Kunst par excellence sei, weil es das Handeln auf der Bühne der Welt nachahme.20 Es geht um die konkrete Herausforderung der Vorentscheidung darüber, was "Bühne" ist und was nicht, ob sich diese Herausforderung nun auf Demonstrationsordnungen bezieht, auf Grenzregime oder (wie im Falle der "Stürmung" eines italienischen Flüchtlingslagers durch Tute Bianche) auf Praktiken der Internierung jener, die politischen Ausschlüssen unterworfen sind. Zugleich geht es um die konkrete Herausforderung der Vorentscheidung darüber, was als politischer lógos gilt und was nur als der Lärm der phônê.

Vielleicht wären vor diesem Hintergrund die Konturen einer postdramatischen Politik - einer Politik, der die Welt nicht mehr Bühne ist - am besten in den folgenden Sätzen Jacques Rancières skizziert: "Die politische Aktivität ist jene, die einen Körper von dem Ort versetzt, der ihm zugewiesen war, oder die Bestimmung eines Ortes verändert; sie lässt sehen, was keinen Ort hatte, gesehen zu werden, lässt einen Diskurs hören, wo nur der Lärm seinen Ort hatte, lässt als Diskurs verstehen, was nur als Lärm verstanden wurde."21

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1) J.-L. Nancy, Corpus, 13.
2) Ebd.
3) Der Duden führt den deutschen "Tusch", eigentlich eine von einer Musikkapelle gespielte laute, signalartige Tonfolge, auf die - im heutigen Französisch eher mit "le toucher" ausgedrückte - Bedeutung "Anschlag" (z. B. eines/r KlavierspielerIn) des französischen "touche" zurück und verweist auf das mundartliche Wort "tuschen" für "stoßen", "schlagen".
4) M. Merleau-Ponty,
Das Sichtbare und das Unsichtbare, 176.
5) M. Merleau-Ponty,
Phänomenologie der Wahrnehmung, 119.
6) M. Merleau-Ponty,
Das Sichtbare und das Unsichtbare, 182.
7) Ebd., 183.
8) J.-L. Nancy, a. a. O., 22.
9) Ebd., 22 f.
10)Ebd., 23.
11) Aristoteles,
Politik, 1253a.
12) Ebd., 1254b.
13) Vgl. zum "Lärm" der bloßen
phônê: J. Rancière, La Mésentente, 44 ff.
14) Vgl. G. Agamben,
Homo Sacer.
15) Ebd., 133.
16) Vgl. S. Nowotny, "Erfasste Bewegung".
17) J.-L. Nancy, Corpus, 13.
18) Vgl. Colin Beavan,
Fingerprints, 187.
19) Vgl. G. Raunig, "Kriegsmaschine jenseits von Gewalt und Terror";
R. Foltin, "Radical Cheerleading".
20) H. Arendt,
Vita activa, 179 f.
21) J. Rancière,
La Mésentente, 53
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Zitierte Literatur:

> Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.
> Hannah Arendt, Vita activa oder: Vom tätigen Leben, München: Piper 1994.
> Aristoteles, Politik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994.
> Colin Beavan, Fingerprints. The Origins of Crime Detection and the Murder Case that Launched Forensic Science, New York: Hyperion 2001.
> Robert Foltin, "Radical Cheerleading in Pink&Silver. Demonstrationskultur zwischen Anpassung und Konfrontation", in: Kultur-Risse 03/02, Wien 2002 (bzw. unter: www.republicart.net/disc/hybridresistance/index.htm).
> Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink: 1986.
-, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1965.
> Stefan Nowotny, "Erfasste Bewegung. Migration und Identifikation im erweiteren Nationalstaat", in: Kultur-Risse 01/02, Wien 2002 (bzw. unter: http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1011686765).
> Jean-Luc Nancy, Corpus, Paris: Editions Métailié 2000.
> Jacques Rancière, La Mésentente. Politique et Philosophie, Paris: Galilée 1995.
> Gerald Raunig, "Kriegsmaschine jenseits von Gewalt und Terror. Zum prekären Nomadismus der VolxTheaterKarawane", in: Kultur-Risse 03/02, Wien 2002 (bzw. unter: www.republicart.net/disc/hybridresistance/index.htm).