Agieren/Nichtagieren Stefan Nowotny |
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An etwas laborieren, das heißt dem geläufigen Sprachgebrauch zufolge: mit etwas beschäftigt sein, sich an etwas abmühen, möglicherweise an etwas, das man nicht los wird oder nicht unter Kontrolle bringt, wie etwa eine Krankheit oder ein Problem; es heißt also gewissermaßen, näher am Wortsinn bleibend, dass jene, die an etwas "laborieren", von dem, was sie bearbeiten, gleichzeitig selbst bearbeitet werden. Ein Labor wiederum ist nach vertrauten Begriffen eine Stätte des Experiments. Im Experiment geht es darum, etwas in Erfahrung zu bringen, und zwar indem bestimmte Bedingungen hergestellt werden, die das, was in Erfahrung gebracht werden soll, als "Ereignis" isolieren oder sogar produzieren. Jedenfalls gilt das für das wissenschaftliche Experiment (auch wenn es in manchen Bereichen der Wissenschaft längst einer sehr spezifischen Abstraktion bedarf, um das Ereignis fassbar werden zu lassen); eine gewisse Expertise - eine allgemeine Erfahrenheit bezüglich dessen also, was im Besonderen erst in Erfahrung gebracht werden soll - geht in ihm dem eigentlichen Experiment voraus, und dieses dient letztlich der Vervollkommnung der Expertise. Alltagssprachlich bedeutet "sich auf ein Experiment einlassen" hingegen, ein bestimmtes Wagnis einzugehen, das heißt: in eine Erfahrung einzutreten, die nicht nur offen in ihrem Ausgang ist, sondern deren Bedingungen und Regeln unbekannt oder unkontrollierbar sind. Auch hier bestimmt sich das Experiment aus dem Bezug auf das Ereignis, nur dass das Ereignis hier gerade nicht isoliert werden kann, sondern im Gegenteil die Erfahrung zu "überwältigen" geeignet ist, oder vielmehr: das Korrelat einer Erfahrung bildet, die weder auf ihr anfängliches Bedingungsgefüge noch auch auf eine Antizipation oder einen Erwartungshorizont reduziert werden kann. Demnach wäre zunächst davon auszugehen, dass ein Labor - in dem es ja gerade nicht darum geht, an etwas im eingangs genannten Sinn zu "laborieren" - den Ort eines kontrollierten Experiments, einer kontrollierten Erfahrung, kontrollierter Ereignisse darstellt (auch wenn die Dinge, wie wir wissen, durch "unvorhergesehene Zwischenfälle" leicht außer Kontrolle geraten können). Es wäre der Ort einer bestimmten Anordnung von Arbeit, Erfahrung und Ereignis; einer Anordnung, die nicht zuletzt darauf abzielt, die Beziehungen, die zwischen Arbeit, Erfahrung und Ereignis herrschen, zu stabilisieren. Nicht nur im meist gut geschützten Inneren des Labors übrigens, sondern auch in seinen Beziehungen zur Außenwelt: dem größeren Zweckzusammenhang, in den es sich einschreibt, der Kommunikation seiner Ergebnisse etc. In einem Labor jedoch, das sich "auf ein Experiment einließe" (anstatt Experimente zu "veranstalten"), würden die Beziehungen zwischen Arbeit, Erfahrung und Ereignis, ebenso wie die Grenze zwischen "innen" und "außen", mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aus den Fugen geraten und aufgrund dieser Destabilisierung selbst zum "Gegenstand" des Labors werden - oder vielmehr: zu dem, woran laboriert wird. Es mag damit zu tun haben, dass das Labor 4 der Serie "Labor für Performance und postdramatisches Agieren", das unter dem Titel "Eine Praxis des Austauschs" stattfand, mit einer Reihe von Themen beschäftigt war, die von verschiedenen Seiten her das Beziehungsgefüge des Labors, seine Begrenzungen und möglichen Entgrenzungen, selbst betreffen. Diese Themen decken sich nicht mit den genannten Komponenten "Arbeit", "Erfahrung" und "Ereignis", wohl aber ziehen sie Schnittebenen ein, auf denen sich diese Komponenten neu "organisieren", die also die Praxis des Labors durchqueren und ihr neue Orientierungen ermöglichen. Von drei dieser Themen soll hier, unter Bezugnahme auf in Labor 4 verwendetes sowie darüber hinausgehendes Material, die Rede sein. Ihre Verschränkung ergibt sich dabei, daher die Form dieses Textes, nicht aus ihrer Anordnung im Rahmen eines sie totalisierenden theoretischen Zusammenhangs, sondern aus der Praxis des Labors 4 selbst, der Art, wie sie von diesen Themen Gebrauch gemacht hat, sich an ihnen und durch sie hindurch erprobt hat. Als konkrete Ausgangspunkte dienten dabei im Rahmen des Labors selbst vor allem Werner Hamachers Text "Afformativ, Streik", Pier Paolo Pasolinis Film Salò oder die 120 Tage von Sodom sowie die durchgängige Auseinandersetzung mit der Frage der "Öffentlichkeit" des Labors, die sich - unter Umgehung konventioneller Präsentationsformen und im Versuch, die Grenze zwischen Öffentlichkeit und geschlossenem Laborsetting beweglich zu halten - über verschiedene Module der "Zugänglichkeit" ebenso sehr vollzog wie umgekehrt über ein experimentelles Intervenieren in den "öffentlichen Raum". Wenn hier auf eine Beschreibung der konkreten Laborpraxis im Einzelnen verzichtet wird, dann deshalb, weil die drei Themen, von denen im Folgenden die Rede ist, an eine gemeinsame Frage rühren, die hier in den Vordergrund gestellt werden soll und die ihrerseits direkt mit der Frage nach "Performance und postdramatischem Agieren" zusammenhängt: die Frage eines Handelns, das in einem Nicht-Handeln gründet.
"
die
lebendige Ruhe, wo alle Kräfte regsam sind
" Womit ließe sich besser anfangen als mit dem Thema des Streiks? Es erinnert unmittelbar daran, dass jeder Anfang, so sehr er sich auch der Fülle einer autonomen Setzung, des Subjekts einer solchen Setzung und des in ihr sich ankündigenden Gehalts zu verdanken scheint, doch nur auf der Grundlage einer Unterbrechung möglich ist: Kein Anfang ist absolut, immer geht ihm etwas voraus, und deswegen dürfte andererseits nichts im eigentlichen Sinn als Anfang gelten, das nicht imstande wäre, eben das, was ihm vorausgeht, zu unterbrechen. Der Streik ist zunächst durch die Aussetzung eines Handelns definiert. Wie das Beispiel des Hungerstreiks zeigt, muss es sich bei dem Handeln, das ausgesetzt wird, nicht unbedingt um Arbeit drehen. Wohl aber zeigt sich an der Bestreikung von Arbeit, gerade in ihrer politischen Bedeutung, dass die Unterlassung, die Aussetzung, das Nicht-Handeln im Streik sich nicht notwendig darin erschöpft, einen Zweck durchzusetzen, der dem Mittel des Nicht-Handelns im Grunde äußerlich ist, sondern auf eine Transformation des Handelns und also auf die Ebene der Mittel selbst bezogen sein kann. Jedenfalls ist es diese Perspektive, unter der Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Zur Kritik der Gewalt", dessen Lektüre sich der angesprochene Text von Werner Hamacher widmet, die Frage des Streiks analysiert hat: Die Diskussion der Ebene der Mittel ist in Benjamins Text über Gewalt zentral, und zwar deshalb, weil sich allein auf dieser Ebene eine radikale Kritik der Gewalt durchführen lässt. Die üblichen Zugänge zur Frage der Gewalt reduzieren deren Kritik nämlich, so Benjamin, auf die "Rechtmäßigkeit" ihrer Anwendung, das heißt letztlich auf die Gerechtigkeit ihrer Zwecke. Dies zeigt sich nicht zuletzt deutlich an den geläufigen Legitimationsfiguren der Staatsgewalt, aber auch der revolutionären Gewalt. Um demgegenüber "ein Kriterium der Gewalt selbst als eines Prinzips" formulieren zu können, bedarf es "einer Unterscheidung in der Sphäre der Mittel selbst, ohne Ansehung der Zwecke, denen sie dienen"1. Es ist dieser Zusammenhang, in den Benjamin die Diskussion des Streiks stellt; am Streik nämlich lässt sich eine solche "Unterscheidung in der Sphäre der Mittel selbst" ausmachen: "Das Moment der Gewalt aber tritt, und zwar als Erpressung, in eine solche Unterlassung unbedingt dann ein, wenn sie in der prinzipiellen Bereitschaft geschieht, die unterlassene Handlung unter gewissen Bedingungen, welche, sei es überhaupt nichts mit ihr zu tun haben, sei es nur etwas Äußerliches an ihr modifizieren, wieder so wie vorher auszuüben."2 Der Streik erfolgt hier ausschließlich in Hinblick auf einen der Ebene der Mittel (des Handelns bzw. Nicht-Handelns) äußerlichen Zweck, und gerade darin zeigt sich an ihm ein "Moment der Gewalt", nämlich die Erpressung. Anders verhält es sich bei einer anderen Form des Streiks, die sich als "reines Mittel" darstellt; sie zeigt sich "im Entschluss, nur eine gänzlich veränderte Arbeit [ ] wieder aufzunehmen, ein Umsturz, den diese Art des Streiks nicht sowohl veranlasst als vielmehr vollzieht"3. Der entscheidende Punkt ist hier, dass sich, folgt man Benjamins Formulierung, die Aussetzung der Arbeit nicht einfach als Nicht-Arbeit, sondern als andere Arbeit erweist, indem der "Umsturz" sich zum einen auf eine "gänzlich veränderte Arbeit" bezieht, zum anderen und vor allem aber nicht erst "im Resultat", in der Durchsetzung eines gesetzten Zwecks erfolgt, sondern sich unmittelbar vollzieht. "Unmittelbar", das heißt in diesem Fall (auf den ersten Blick paradoxerweise): in der Unmittelbarkeit des reinen Mittels oder der reinen Mittelbarkeit. Wir stoßen hier also auf den - wie Benjamin sagt: "echt revolutionären" - Begriff eines Handelns, das, indem es sich selbst aussetzt, den Möglichkeitsraum eines anderen Handelns eröffnet und freisetzt und dieses andere, in einem Nicht-Handeln bzw. einer Selbstaussetzung gründende Handeln im Moment seiner Eröffnung bereits vollzieht. Die Unterscheidung, die Benjamin "in der Sphäre der Mittel" gesucht hat, lenkt den Blick mithin auf einen Übergang, der die Praxis selbst betrifft. Das scheinbare doppelte Paradox einer unmittelbaren Mittelbarkeit bzw. eines im Nicht-Handeln gründenden Handelns wird verständlicher, wenn man sich ein anderes Phänomen vor Augen führt, das Benjamin nicht zufällig als zentrales Beispiel für eine "gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft"4 dient, nämlich die "Unterredung", das Gespräch. Die Unmittelbarkeit des Gesprächs gründet tatsächlich in seiner reinen Mittelbarkeit: darin, dass es sich, sofern es Gespräch ist, diesseits der Ebene der Zwecke vollzieht, nämlich in der Mittelbarkeit einer Mit-teilung, die - vor jeder "Information" - allererst den Raum eröffnet, in dem ein Gespräch stattfinden kann; und das Handeln in einem Gespräch gründet stets in einem Nicht-Handeln, das heißt in der Aussetzung dieses Handelns, nämlich des Sprechens. Der Begriff der Aussetzung nimmt hier den doppelten Sinn einer Suspension des Handelns sowie einer sich jeder Möglichkeit der Kontrolle begebenden Öffnung für das an, was sich in dieser Suspension vollzieht bzw. was einem/r in ihr widerfährt: Jedes Gespräch konkretisiert sich letztlich an dem nicht antizipierbaren Ereignis, dem es sich aussetzt - und sei es unter der Form eines "Ausbleibens" des Ereignisses, das freilich nur am Maßstab eines Erwartungshorizontes als Ausbleiben bestimmt werden kann. Vor diesem Hintergrund hat Werner Hamacher, ausgehend
von Benjamins Text und in Abgrenzung zu dem in Austins Sprechakttheorie
geprägten Begriff des "Performativen", den geglückten
Begriff des "Afformativen" entwickelt. Während der performative
(Sprech-)Akt, als Form einer Setzung, immer auch auf die Setzung und Durchsetzung
einer Form verweist, markiert das lateinische Präfix ad-, mit dem
das Wort "afformativ" gebildet ist, "die Eröffnung
einer Handlung, und zwar einer Handlung der Eröffnung"5;
"Das Unbewusste
ist eine Substanz, die fabriziert, die zum Fließen gebracht werden
muss; Pasolinis Film Salò oder
die 120 Tage von Sodom stellt, indem er den Roman des Marquis de
Sade im Kontext des italienischen Faschismus reinszeniert
7, den zeitlich und räumlich reduzierten Extremfall eines
Gewaltregimes dar, das sich - diesseits der "Ideologie" - als
Begehrensregime errichtet. Diesseits der "Ideologie", das heißt
hier gerade nicht: diesseits des Politischen; vielmehr entlarvt Pasolinis
Film eine Analyse des Faschismus als unzureichend, die noch dort, wo sie
von "Verführung" spricht, an der Wahrheit eines Subjekts
der "Unschuld", der Erkenntnis oder eben des Begehrens festhält,
dem die "Ideologie" und das, was in ihrem Namen geschieht, nachträglich
und äußerlich bleibt. Anders gesagt, er entlarvt, und das ist
vielleicht das Beunruhigendste an ihm, den Faschismus als Begehrenszusammenhang,
in dem das Begehren, wie Deleuze und Guattari schreiben, zuletzt so weit
geht, "dass es auch seine eigene Vernichtung begehrt, oder das, was
die Macht zur Vernichtung hat"8. Ein Regime, das über das Begehren herrscht, ist immer nur denkbar als ein Regime, das sich in das Begehren selbst einschreibt: das es in den Bahnen eines Gefüges kanalisiert, das sich ihm nicht wie von außen auferlegt, sondern sich in ihm reproduziert und reaktualisiert; das es auf eine Ausdrucksform festlegt, die dem Anschein nach von großer Vielfalt sein kann, solange sie sich nur nicht auf ein Begehren bezieht, das ein anderes Gefüge eröffnet oder etwas anderes aktualisiert. Deshalb kann in Pasolinis Film, der wie gesagt einen Extremfall darstellt, auch keine Art von Vertraulichkeit oder außerhalb des Gefüges stattfindender Beziehung toleriert werden, sondern muss entweder in seiner affektiven Energie umgewendet und in das Regime erneut eingespeist oder aber sofort vernichtet werden. Deutlich wird dieser Zusammenhang zwischen notwendigen Reaktualisierungen des Begehrensregimes und der mörderischen Phobie gegenüber jeglichem anderen Begehrensgefüge vor allem an jener Szenenabfolge, in der uns Pasolini vorführt, wie die kleinen Verstöße gegen das Regime, einmal aufgedeckt, sofort in die Denunziation anderer, größerer Verstöße umschlagen. Die Kette der Denunziation endet bei einer farbigen Hausdienerin und ihrem Geliebten, der sich, den faschistischen Herren die Faust entgegenballend, als Kommunist erweist: Hier erst wird wirklich ein anderer Zusammenhang von Begehren sichtbar, der nicht in Denunziation umschlägt und mit sofortiger Erschießung geahndet wird. - Ein Begehrensregime funktioniert nicht vorrangig als Repression, sondern als performative Kontinuität, als quasi-rituelle Wiederholung, und zwar nicht des schlechthin Gleichen, sondern des Ähnlichen und der Spielräume dessen, was als "möglich" gesetzt wird. In seinen Freibeuterschriften, die zur Entwicklung der italienischen Gesellschaft in den frühern Siebzigern Stellung nehmen, kehrt Pasolini die Vorzeichen dieser Begehrensanalyse um: Hier ist es nicht mehr der Extremfall, der in reduziertem Rahmen als Normalität gesetzt wird, sondern der Normalfall, "eine total passive, aber gleichzeitig gewalttätige Mehrheit", bzw. die "Vorstellung vom absoluten Vorrang des Normalen", die als "ebenso selbstverständlich wie vulgär und geradezu kriminell"qualifiziert wird.9 Der Hintergrund dieser Vorstellung ist, so Pasolini, "nach wie vor klerikal-faschistisch", doch "hat sich im Verlauf der letzten zehn Jahre die Konsumgesellschaft herausgebildet, d. h. ein neuer, scheintoleranter Herrschaftstyp, der auf riesiger Stufenleiter die Paarbeziehung zu neuer Blüte brachte und sie mit sämtlichen Privilegien seines Konformismus ausstattete"10 (das Modell dieser neuen Paarbeziehung ist, dem Herrschaftstyp entsprechend, nicht mehr das "Paar, das Nachkommen erzeugt", sondern das - kleinbürgerliche - "Paar, das konsumiert"11). Wie auch immer man zu dieser Analyse der "anthropologischen Revolution"12 einer auf verschiedensten Ebenen erfolgenden "extremen Vereinheitlichung" durch die Konsumgesellschaft im Einzelnen stehen mag (die es Pasolini im Übrigen erlaubt, die faschistischen Bombenanschläge der späten 60er-, frühen 70er-Jahre einem "nominellen Faschismus ohne eigene Ideologie" zuzurechnen) - was in ihr in den Blick rückt, ist ein Begehrensregime, das nicht mehr vom Extrem der manifesten, autoritär strukturierten Gewaltausübung, sondern von der Normalität einer majoritären "passiven Gewalttätigkeit" aus zu denken ist, der das Elend der Welt allenfalls als zeitweilige Gewissensirritation erscheint.13 Es handelt sich um die Normalität eines konsumistischen Kleinbürgertums, das sich in pathosfreien Begehrensroutinen erschöpft, in dem auch das Liebeserlebnis "nichts anderes bewirken [würde] als einen nüchternen Kampf gegen das eigene Gewissen" und das "darauf hinzielt, die gesamte Menschheit sich selbst anzugleichen bis zur völligen Identifizierung des bürgerlichen Menschen mit dem Menschen schlechthin". 14 Bei Giorgio Agamben finden wir einen späten Reflex dieser Thesen Pasolinis, wenn er davon spricht, dass auch die sozialen Klassen sich in "ein planetarisches Kleinbürgertum" aufgelöst haben 15: "Seit die Sinnlosigkeit die Kellergewölbe verlassen hat, ist ihre Zurschaustellung alltäglich geworden: nichts gleicht dem Leben der neuen Menschheit mehr als ein Werbefilm, aus dem alle Spuren des beworbenen Produktes gelöscht wurden. Widersprüchlich wird das Leben des Kleinbürgers einzig deshalb, weil er gleichwohl in diesem Film das Produkt sucht, um das er betrogen wurde; weil er trotz allem darauf besteht, sich eine Identität zueigen zu machen, die ihm eigentlich völlig unangebracht und bedeutungslos erscheint."16 Dennoch bleibt das Begehren unberechenbar und nicht vollständig kontrollierbar. Spuren eines solchen subversiven Begehrens hält Pasolini, wie wir gesehen haben, selbst in Salò oder die 120 Tage von Sodom sichtbar, und in Teorema 17 nimmt es die Stellung eines zentralen, ja geradezu messianischen Veränderungsprinzips ein: Die ganze Familie eines Industriellen ("Kleinbürger im ideologischen, nicht ökonomischen Wortsinn" 18) gerät anlässlich des Besuchs eines schönen Gastes in existenziellen Aufruhr; Vater, Mutter, Tochter, Sohn (samt dem "Heiligen Geist", um mit den Worten eines Chansons von Georges Brassens zu sprechen) erliegen dem "heiligen Sex" des Jünglings, niemand bleibt, wie er oder sie war. Nicht deshalb bleibt das Begehren unkontrollierbar, weil es eine authentische innere Wahrheit des Menschen verbürgen würde, sondern weil es der "Offenbarung" hier letztlich nicht widerstehen kann 19 und weil die "Beschaffenheit der Personen" immer nur auf "die Konkretheit, nicht [ ] die Substanz der Dinge"20 verweist. Das Begehren öffnet hier also ein anderes Gefüge oder soziales Möglichkeitsfeld, oder vielmehr: es ereignet sich in einem anderem Gefüge oder Möglichkeitsfeld, das nicht kontrollierbar und nicht antizipierbar ist. Es realisiert sich in einer singulären Situation, doch eben weil es sich letztlich nur in einer Situation - oder wie Deleuze sagt: einem Immanenzfeld oder (mit Artaud) einem "organlosen Körper" - aktualisiert, ist es immer schon zugleich kollektiv und in einem bestimmten Sinn politisch: Das Begehren ist elementarer Teil einer sozialen Produktion, die zugleich soziale Erfahrung ist und generiert; es ist dieser nicht präexistent. Von daher der situationistische Einwand gegen den surrealistischen Irrtum, "einen unendlichen Reichtum der unbewussten Imagination"21 anzusetzen; von daher die vehementen Angriffe von Deleuze und Guattari gegen die Psychoanalyse 22, deren Versuch, das Begehren in Schranken zu halten, indem es an das familiale Setting gebunden und seine Konflikte am Individuum "kuriert" werden, sowie gegen alle Versuche, das Begehren auf ein inneres Gesetz, einen grundsätzlichen Mangel oder aber auf die Ebene des Imaginären und Phantasmatischen zu reduzieren: Das Begehren der Situation zu entreißen, in der es sich aktualisiert, es auf ein Subjekt, seinen "Mangel", seine "Phantasien", die auf etwas anderes hin zu interpretieren sind, zu reduzieren heißt, es als Reales zum Verschwinden zu bringen, es durch einen Code zu ersetzen 23 sowie durch die ihm entsprechenden Begehrensroutinen. Umgekehrt ist die Eröffnung einer Situation, in der sich Begehren aktualisiert, unmittelbar mit einer sozialen Produktion verbunden, die zugleich eine Produktion des Sozialen als Begehrensgefüge ist. Es ist kein Zufall, dass Guy Debord seinen "Rapport sur la construction des situations", das "Manifest" des Situationismus, damit beschließt, Marx' berühmte 11. Feuerbach-These neu zu formulieren: "Man hat die Leidenschaften zur Genüge interpretiert. Es kommt jetzt darauf an, neue zu finden."24
"Die Konstruktion
von Situationen beginnt jenseits des modernen Zusammenbruchs Es genügt manchmal, sich zu viert auf eine viel zu kurze Bank in einer stark frequentierten Einkaufsstraße zu legen, ein Knäuel zu bilden, um eine Reihe von bemerkenswerten Reaktionen hervorzurufen: von zurechtweisenden Blicken über unwillkürliches, schnell wieder zurückgenommenes Lächeln bis hin zur Andeutung, den vier Körpern einen fünften hinzufügen zu wollen. Warum die Bank so kurz ist (gerade Platz für zwei bietet und überdies von metallenen Armlehnen begrenzt ist)? Weil sie nicht zum Liegen da steht, insbesondere nicht für Obdachlose, denen es einfallen könnte, darauf übernachten zu wollen. In der Wiener Mariahilfer Straße hatte es in den Monaten davor eine Serie von Anzeigen und Strafen gegen Obdachlose oder Punks gegeben, und zwar wegen "unbegründeten Stehenbleibens", wie es in der Straßenverkehrsordnung heißt. Eine Reihe von Gesprächen vor Ort erwies jedoch schnell jeden Versuch, "eine Situation zu konstruieren", als schwierig - vor allem deshalb, weil die einzelnen Gruppen von Obdachlosen und Punks, auf ihre Erfahrungen mit der Exekutive sowie mit jenen Geschäftsleuten, die sie angezeigt hatten, angesprochen, wenig miteinander zu tun haben wollten oder einander zum Teil sogar gegenseitig die "Schuld" an der neuen Repression zuschoben. "Was unsere Weise, die Straßen wahrzunehmen, verändert, ist wichtiger als das, was unsere Weise, die Malerei wahrzunehmen, verändert"25, schrieb Guy Debord 1957. Die darin liegende Maxime ist jedoch missverständlich und überdies nicht leicht einzulösen - jedenfalls unter der Voraussetzung nicht, dass man die Straßen nicht mit der Malerei, dem Theater oder Ähnlichem, die Veränderung der Wahrnehmung nicht mit der Erzeugung von Sichtbarkeiten verwechselt. Dass das "Spektakel" nicht allein auf die Bedingungen von White Cube oder Black Box eingeschränkt ist, lässt sich gerade in Debords 1967 verfasster Société du spectacle nachlesen: Das Prinzip der Gesellschaft des Spektakels, des Spektakels als gesellschaftliches Verhältnis, ist nicht die konventionelle Ausstellung oder Aufführung bzw. die Separation zwischen AkteurInnen und Publikum, sondern dass "alles, was direkt durchlebt wurde, sich in einer Repräsentation entfernt hat"26 (so wie das reale Begehren im Imaginären), und dass dadurch die allgemeinen gesellschaftlichen Separationen - mag es sich dabei auch um die Separation zwischen Obdachlosen und Punks handeln, die einer gemeinsamen anderen Separationslinie unterliegen - durch falsche einheitliche Bilder überdeckt werden. Darum besteht die Überwindung der Nicht-Intervention nicht darin, ein Bild zwischen die Menschen, auf die Straßen, in den "öffentlichen Raum" einzusetzen (auch nicht unter der Bedingung der "Partizipation"), sondern vielmehr darin, eine Situation zwischen den Bildern sowie zwischen dem Verhältnis der Bilder zu den realen Separationen zu "produzieren", oder genauer und präzise dem Wortsinn von "Intervention" entsprechend: sie dazwischenkommen zu lassen, zwischen die Bilder, zwischen die Separationen, zwischen die Identifikation beider - und damit nicht zuletzt zwischen das anfängliche Bedingungsgefüge und gleichwelche Möglichkeit der Antizipation, deren Zusammenspiel als Kontinuum das kontrollierte Experiment charakterisiert. In diesem Sinn "ist" die Intervention Ereignis, Afformativ. "Situation" heißt, den situs, d. h. die "Stellung", die "Ruhelage", die "Untätigkeit" in Bewegung zu versetzen. Dies geschieht jedoch nicht (und vielleicht ist es dies, was die paradoxale Rede von einem "postdramatischen Agieren" anzeigt) durch ein einfaches Tätigwerden oder Agieren, noch kann eine Situation im eigentlichen Sinn, um einen zentralen situationistischen Begriff aufzugreifen, "konstruiert" werden; es erfordert ein Agieren, das sich selbst auszusetzen vermag, um die Situation, vielleicht, zu ermöglichen, als kollektive offen zu halten und sich ereignen zu lassen. Nach modernen Begriffen kann dies durchaus als "Öffentlichkeit" verstanden werden - Öffentlichkeit jedoch weder im Sinn von Sichtbarkeit noch im abstrakten Sinn einer "universellen", gleichwohl aber bestimmte Orte, Formen und Medien privilegierenden Sphäre der Kommunikation, sondern im konkreten Sinn sozialer und politischer Konstitutionsprozesse. Öffentlichkeit als abstraktes Prinzip gelangt immer nur zu einer "gesellschaftlichen Scheinsynthese" 27, die Figuren der Repräsentation an die Stelle eigentlicher Auseinandersetzung treten lässt; Öffentlichkeit als Konstitutionsprinzip hingegen ist situativ, das heißt, sie geht von der Eröffnung eines konkreten Interventionsraums aus, der die Mechanismen der Abgrenzung und Ausgrenzung, die "Öffentlichkeit" zumeist definieren (öffentlich/privat, AkteurInnen/Publikum, "Stimmberechtigte" und solche, denen keine Stimme zugestanden wird, etc.), grundsätzlich unterläuft und in Bewegung versetzt. Es ist diese letzte Bedeutung, jene eines Prinzips sozialer und politischer Konstitution, die sich am Beginn der Moderne aufspüren lässt (wo das Prinzip der Öffentlichkeit, und zwar in der Ambivalenz von Abstraktion und Situativität, der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft dient) und die es, auch wenn "Öffentlichkeit" heute mehr denn je zu einer Chiffre des Spektakels geworden zu sein scheint, im Ausgang von gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen und Transformationen neu zu beleben gilt. Wie sich ein Labor, das die Beziehungen zwischen Arbeit, Erfahrung und Ereignis neu zur Disposition stellt, jenseits der Möglichkeit der Partizipation und der situationistischen Konstruktion "öffentlich machen" lässt? Das wird sich nach dem Labor, in der Suche nach neuen Formen und in einem fortgesetzten Öffentlich-Werden, dem die Repräsentation in dem Maße äußerlich bleibt, wie es in konkrete soziale Verhältnisse interveniert, weiter zeigen müssen; nicht aus einem Mangel an Antworten (Labor 4 hat im Gegenteil eine Fülle von Antworten auf diese Frage angeboten), sondern weil dieses Öffentlich-Werden in einer produktiven Differenz zu jedem Öffentlich-Machen steht und weil die Frage letztlich auf ein Laborieren verweist, das die Grenzen jedes Labors aufsprengt. "And as I grow, I grow collective",
spricht der Sänger Tricky; für die Ebene, auf der vom Kollektiven
auszugehen ist, und für das Afformativ-Werden des Performativen muss
vielleicht, diesseits des Spektakels, gelten: "And as we grow, we
grow public" - in der Eröffnung einer Handlung, und zwar einer
Handlung der Eröffnung. _________________ |
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